Ethische Fragen stellen | Magazin ARTISET | 10 / 2022

ARTISET 10/11 I 2022  3 Editorial «Es sind kreative Lösungen gefragt, um widersprüchlich erscheinenden Bedürfnissen gerecht zu werden.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Die Situation und die Bilder davon haben sich für immer in unser Gedächtnis eingebrannt: verletzliche, betagte Men­ schen, die nur durch eine trennende Scheibe Kontakt zur Aussenwelt haben, selbst zu ihren engsten Angehörigen. Physische Nähe, Berührungen und Umarmungen, die für das Wohlbefinden, ganz besonders von Demenzkranken, von entscheidender Bedeutung sind, sind nicht oder kaum mehr möglich. Eine kaum erträgliche Situation. Die Heimschliessungen während der Coronapandemie haben uns allen deutlich vor Augen geführt, wie anspruchs­ voll es sein kann, zentralen Bedürfnissen und grundlegen­ den Rechten von Menschen mit Unterstützungsbedarf nachzukommen: dem Recht auf den Schutz der Gesundheit und des Lebens einerseits und wichtigen Persönlichkeitsre­ chen andererseits. Die Beschränkungen der sozialen Kon­ takte zum Schutz vor dem gefährlichen Coronavirus haben zwangsläufig die Persönlichkeitsrechte verletzt. Da sie nicht beiden Rechten gleichermassen entsprechen können, stellt sich Verantwortlichen in solchen Situationen ein ethisches Dilemma. Umso wichtiger ist es, sich Fragen zu stellen: Wie weit darf man zum Schutz der Gesundheit die Selbstbestimmung und Autonomie einschränken? Und umgekehrt: Wie weit darf Selbstbestimmung und Autono­ mie gehen, ohne dass daraus ein allzu grosses Risiko für die Gesundheit resultiert? Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf aus allen Branchen sehen sich in ihrem Alltag immer wieder mit Situationen konfrontiert, wo sie kreative Lösungen fin­ den müssen, um widersprüchlich erscheinenden Bedürfnis­ sen von Menschen im Alter, Menschen mit einer Beein­ trächtigung oder Kindern und Jugendlichen gerecht zu werden. Die Beiträge in unserem Fokus «Ethische Fragen stellen» zeigen auf, wie vielfältig die Bereiche und Situatio­ nen sind, in denen sich ein solches Spannungsfeld öffnet. Im Gespräch mit dem Magazin Artiset umreisst Ethike­ rin und Heilpädagogin Daniela Ritzenthaler das Feld ethi­ scher Fragestellungen für verschiedene Unterstützungsbe­ reiche. Für besonders wichtig erachtet sie, dass sich Fachpersonen solcher Fragen bewusst sind – und an einer gemeinsamen Haltung arbeiten (Seite 6). Bei behördlich verordneten Heimschliessungen wie wäh­ rend der Coronapandemie gelte es, den Handlungsspiel­ raum zu erkennen, um solche Massnahmen verhältnis­ mässig umzusetzen, betont Regula Mader, Präsidentin der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (Seite 13). Ethiker Settimio Monteverde von der Berner Fachhochschule nimmt im gleichen Beitrag aber auch die Behörden in die Pflicht: «Sie müssen sich klar dazu beken­ nen, dass bei verletzlichen Personen der physische Kontakt immer gewährleistet ist.» Ganz besonders empfehlen möchte ich Ihnen den Beitrag «Herausforderndes Verhalten anders angehen» von Sozial­ pädagogin Rahel Huber und Sozialpädagoge Claudio Kaiser, die beide im Zürcher Epi-Wohnwerk arbeiten. Vor ihrem breiten Erfahrungshintergrund zeigen sie eindrücklich auf, wie es selbst in höchst komplexen Fällen möglich – und nötig – ist, freiheitseinschränkende Massnahmen stark zu reduzieren (Seite 16). Titelbild: Besucherkabine im Alters- und Pflegezentrum Solina in Spiez während der Coronapandemie. Foto: Adrian Moser

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