Wenn die seele hilfe braucht | Magazin ARTISET |10-11-2023

ARTISET 10/11 I 2023 41 Aktuell In der Inklusions-Initiative stellt Inclusion Handicap, der Dachverband der Behindertenorganisationen, klare Forderungen auf. So soll die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen erfolgen, und zwar auch mit dem Einsatz personeller Assistenz und technischer Mittel. Menschen mit Behinderung sollen überdies das Recht haben, Wohnform und Wohnort ihrer Wahl mithilfe von Unterstützungs- und Anpassungsmassnahmen frei wählen zu können. Doch welche Menschen benötigen am dringendsten eine verbesserte Gleichstellung? Für wie viele Menschen müsste die Wahl der Wohnform und des Wohnortes ermöglicht werden? Zudem, betrifft es tatsächlich 1,7 Millionen Menschen mit Behinderung, die gemäss Initiativ-Komitee davon profitieren könnten? Umfrage mit wenig präzisen Parametern Die 1,7 Millionen sind nicht aus der Luft gegriffen. «Wir verlassen uns hier auf die offiziellen Daten des Bundesamts für Statistik (BFS)», sagt dazu Jonas Gerber, Kommunikationsverantwortlicher von Inclusion Handicap. Auf der BFS-Webseite «Menschen mit Behinderungen» wird diese Zahl aus unterschiedlichen Statistiken zusammengeführt. Der umfangreichste Datensatz mit 1,489 Millionen betrifft Menschen ab 15 Jahren, die in einem Privathaushalt leben. Zustande kommt diese Zahl als Hochrechnung respektive als Schätzung subjektiver Angaben, die 2020 telefonisch bei zirka 18 000 Personen erhoben wurden. In Gespräch für diese europaweit standardisierte «Statistics on Income and Living Conditions» (Silc) geben die Befragten zu ihrem Einkommen und Lebensbedingungen Auskunft. Es ist eine komplexe Befragung, die über eine Stunde in Anspruch nimmt. Wie Martin Camenisch. BFS-Mitarbeiter für die Silc-Erhebung, dazu ausführt, wird eine Beeinträchtigung attestiert, wenn jemand in dieser Befragung äussert, dass er oder sie ein chronisches gesundheitliches Problem hat, das seit mindestens einem halben Jahr andauert. Zudem müssen dadurch alltägliche Aktivitäten eingeschränkt sein. Und Camenisch betont, dass diese Definition nicht zu vergleichen ist mit jener von Sozialversicherungen wie der Invalidenversicherung. Die Hochrechnung der Daten der befragten 18 000 Personen auf 1,489 Millionen sei bei solchen Erhebungen üblich. Allerdings muss bei der Befragung von 2020 eine Fehlerquote von plus/minus 67 000 Personen berücksichtigt werden, somit kann die Schätzung um 134 000 Personen danebenliegen. Die zusätzlich 52 000 Kinder (bis 14 Jahren) mit einer Beeinträchtigung stammen aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung von 2017. An dieser Erhebung wurden 22 134 erwachsene Personen aus dem Stichprobenrahmen für die Personen- und Haushaltserhebungen (SRPH) befragt; das Ergebnis wurde dann wiederum auf die Schweizer Bevölkerung hochgerechnet. Keine aktuellen Daten aus Institutionen Die weiteren Datensätze, die sich schliesslich zu den 1,7 Millionen Menschen mit Behinderung addieren, stammen aus der Somed-Statistik, einer aufwendigen Erhebung bei den Kantonen zu ihren sozialmedizinischen Institutionen in den Bereichen Behinderung und Alter. Für die Behinderteninstitutionen wurde diese Statistik letztmals 2015 vom BFS zusammengetragen. Daraus geht hervor, dass 44 308 Menschen mit Behinderung – Suchtkranke und Personen mit psychosozialen Problemen ausgenommen – von einer Institution betreut und begleitet werden. Davon lebten 25 512 Menschen auch tatsächlich in den Institutionen. Die anderen 18 796 Menschen wohnten auswärts, nutzten aber Arbeitsmöglichkeiten in Integrationsbetrieben oder Angebote in Tagesstätten. Inkludiert in der Zahl von 1,7 Millionen Menschen sind zudem auch die 123 258 Personen, die 2019 in einem Alters- und Pflegeheim wohnten. Die 1,7 Millionen Menschen stammen also aus verschiedenen Quellen und aus grundsätzlich unterschiedlichen Statistiken. Der grösste Anteil kommt durch eine direkte Befragung zur eigenen Person oder zur Einschätzung von Eltern über ihre Kinder zustande, der kleinere Teil durch eine objektive Erfassung von Menschen in sozialmedizinischen Institutionen. Zudem stammen die Daten aus unterschiedlichen Jahren, wobei die subjektiven Daten am ehesten die Gegenwart beleuchten, während die objektiven Daten der Somed-Statistik zu Menschen mit Behinderung bereits etliche Jahre alt sind. Dass die Somed-Statistik zu den Behinderteninstitutionen nicht auf dem neusten Stand ist, rügte Ende 2016 der damalige Zuger Ständerat Joachim Eder (FDP), dem als ehemaliger Gesundheitsdirektor diese Angaben für die Planung der kantonalen Angebote für Menschen mit Behinderung fehlten. Er verlangte in einer Motion bessere statistische Angaben von allen Leistungserbringern zuhanden der Kantone respektive zuhanden des BFS, um eine koordinierte gesamtschweizerische Versorgung zu ermöglichen. Der Bundesrat wehrte sich gegen eine Wiederaufnahme der 1998 eingeführten Statistik. Mit dem Hauptargument, so Bundesrat Alain Berset, dass im Rahmen der Neugestaltung

RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2MjQyMg==