Magazin ARTISET_9-2022_Politische Partizipation

ARTISET 09 I 2022 19 Obwohl Menschen mit Behinderungen einen Fünftel der Schweizer Bevölkerung ausmachen, sind sie laut Pro Infirmis in der Politik untervertreten. Ihre Anliegen werden nicht ausreichend berücksichtigt und ihre Stimme erhält zu wenig Gehör. Dennoch zeigen sie ein klares Interesse an öffentlichen Angelegenheiten. Ein Beweis dafür ist diese Weiterbildung, die innert kurzer Zeit ausgebucht war. Mithilfe des Programms möchte Pro Infirmis Menschen mit Behinderungen das politische Engagement erleichtern und gleichzeitig einen Beitrag zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) leisten. Im Fokus steht insbesondere der Artikel 29, der das Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben explizit festhält. In diesem Zusammenhang erinnert Kessler an die Beobachtungen des UN-Behindertenrechtsausschusses vomMärz zur Schweiz. Sinngemäss empfiehlt der Ausschuss in Bezug auf Artikel 29 der Schweiz, «alle gesetzlichen Massnahmen auf Bundes- und kantonaler Ebene aufzuheben, die Menschen mit Behinderungen (…) das Wahl- und Stimmrecht absprechen» , «sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend am politischen und öffentlichen Leben teilhaben können (…), insbesondere die Gewährleistung der Zugänglichkeit des Abstimmungsverfahrens» und «Mechanismen einzurichten, die das Recht aller Menschen mit Behinderungen auf Teilnahme am politischen und öffentlichen Leben, auch durch Interessenvertretung, gewährleisten». Caroline, 29-jährige Grafikerin aus Freiburg, kam nach Bern, um von ihrer Teilnahme an der französischen Ausgabe von Politinklusiv zu erzählen. «Mich interessierte, wie unser System funktioniert, da ich Dinge verändern möchte, vor allem in der Arbeitswelt», erklärte sie dazu. Ein besonderes Highlight war für sie, sich vor Ort mithilfe einer Simultanübersetzung und ohne Bildschirmfilter austauschen zu können. «Für mich ist Networking oberstes Gebot.» Dieser Meinung ist auch Patrick, ein Luzerner mit politischer Erfahrung, der den deutschsprachigen Kurs besuchte, weil es ihm noch an Rüstzeug gefehlt habe. Er schätzte vor allem die vielfältigen Interessen, Horizonte und Anliegen der anderen Teilnehmenden. Gleichzeitig hob er aber auch die Schwierigkeit hervor, sich in der Gebärdensprache auszudrücken, «da sie den Sichtkontakt mit den anderen verhindert, obwohl der physische Kontakt gerade in der Politik sehr wichtig ist». Daneben stellt sich ihm noch eine finanzielle Frage: «Ich brauche für die Gespräche einen Dolmetscher. Wer bezahlt das? Das ist ein echtes Problem.» Sich selbst nicht unterschätzen Im Podium teilten Politikerinnen und Politiker mit Behinderungen, die sich auf kommunaler, kantonaler oder Bundesebene engagieren, ihre Erfahrungen. Sie sprachen von ihren Anfängen in der Politik, den Schwierigkeiten und Hindernissen, aber auch von den Erfolgen. Maud Theler wurde imMärz 2021 als erste Abgeordnete mit Behinderung in den Walliser Grossrat gewählt. «Vor meiner Wahl war mir nicht bewusst, wie viel wir bewirken können», erzählt sie. «Wenn ich bei den Verwaltungsabteilungen einen Antrag stelle und neben meinemNamen noch mein Amt als Abgeordnete angebe, ist das gleich viel effektiver!», berichtet sie und warnt gleichzeitig davor, die eigene Stellung zu missbrauchen. Als Empfehlung an die Adresse der zukünftigen Politikerinnen und Politiker fügt sie mit Überzeugung hinzu: «Wir dürfen uns nicht selbst unterschätzen. Warum sollten wir es nicht schaffen, wenn es Menschen ohne Behinderung schaffen.» In einem Punkt waren sich in Bern alle Anwesenden – mit und ohne politische Erfahrung – einig: Inklusion erfordert politisches Handeln. Fortsetzung erwünscht Für Pro Infirmis ist die erstmalige Durchführung ein Erfolg. Die Rückmeldungen waren sehr positiv, obwohl das Online-Format nicht von allen gleichermassen geschätzt wurde. Zwar ersparte es den Menschen mit eingeschränkter Mobilität beschwerliche Reisen, konnte aber die Spontaneität und den regen Austausch einer Präsenzveranstaltung nicht ersetzen. Daher der Vernetzungsanlass in Bern, damit sich die Teilnehmenden beider Durchführungen treffen und austauschen konnten. «Wir werden die Weiterbildung wieder anbieten», versichert Ildiko Botta, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Pro Infirmis und Mitverantwortliche für das Angebot. Online? Präsenzveranstaltung? Hybrid? Das steht noch nicht fest. «Wir überlegen uns auch eine Abstufung der Module je nach den Bedürfnissen und Vorkenntnissen der Teilnehmenden», ergänzt sie. Eines ist jedoch sicher: «Wir werden auch weiterhin Menschen mit Behinderungen und Interesse an einem politischen Engagement vernetzen.» Anfang September bot sich diesen bereits die Gelegenheit für einen erneuten Austausch. In Bern fand ein zweiter Vernetzungsanlass als Präsenzveranstaltung und mit Simultanübersetzung auf Deutsch, Französisch und in Gebärdensprache statt. Die Anwesenden konnten dabei über den Sinn, die Zukunft und die Form ihres Netzwerks diskutieren. «Wir dürfen uns nicht selbst unterschätzen. Warum sollten wir es nicht schaffen, wenn es Menschen ohne Behinderung schaffen.» Maud Theler, Walliser Grossrätin Infos zu Politinklusiv: ➞ www.proinfirmis.ch > Politinklusiv

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