Magazin ARTISET_9-2022_Politische Partizipation

22 ARTISET 09 I 2022 Umfrage in sechsWestschweizer Pflegeheimen Gemeinsam mit anderen Forschenden hat Barbara Lucas ihre Arbeiten rund um das Stimmrecht und allgemein zur aktiven Teilnahme von Heimbewohnenden am politischen Leben weitergeführt. Das jüngste und von der Fondation Leenaards unterstützte Forschungsprojekt trägt den Titel «La citoyenneté politique comme dimension de la qualité de vie» («Die aktive Teilnahme am politischen Leben als Dimension der Lebensqualität»). Es basiert unter anderem auf einer Umfrage in sechs Westschweizer Pflegeheimen. Die Studie beruht auf der Hypothese, «dass die aktive Teilnahme am politischen Leben zur Verbesserung der allgemeinen Lebensqualität von Menschen im Alter beitragen kann und die Lebensqualitätskonzepte Bürgerrechtsfragen mehr Platz einräumen sollten». Den Schlussfolgerungen zufolge bestätigte sich die Hypothese im Laufe des Projekts. Im Interview mit dem Magazin Artiset ziehen Barbara Lucas und Lea Sgier, ein Mitglied des Forschungsteams, Bilanz aus der Forschung und formulieren Empfehlungen. Lea Sgier ist Lehrbeauftragte im Departement für Politikwissenschaft und assoziierte Forscherin am Institut für Staatsbürgerschaft der Universität Genf. Barbara Lucas, Ihre ersten Arbeiten zum Stimmrecht in Pflegeheimen begannen vor zirka 15 Jahren. Wie haben sich die Fragen zur politischen Partizipation in Pflegeheimen entwickelt? Barbara Lucas: Sie sind noch genauso aktuell wie zu Beginn der Gespräche am runden Tisch. Die Artikel und Präsentationen zum Projekt «Voter en EMS» haben sicherlich da und dort das Bewusstsein gestärkt. Einige Heimleitungen haben jedoch erst vor Kurzem begonnen, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Auslöser war ein Treffen im Rahmen unseres Forschungsprojekts. Wie erklären Sie sich dieses geringe Interesse an der Frage der politischen Rechte von Betagten in Pflegeheimen? Lea Sgier: Die zwei meistgenannten Gründe sind Zeit- und Geldmangel. Die Prioritäten der Heime liegen hauptsächlich bei Pflege- und Gesundheitsproblematiken. Die Betagten selbst halten sich oft imHintergrund. Sie sind zunehmend geschwächt, haben kognitive Störungen. Deshalb verstehen sie ihre soziale und staatsbürgerliche Identität anders. Lucas: So lange Pflegeheime als Ort für den medizinisch begleiteten Lebensabend wahrgenommen werden, ändert sich dies wahrscheinlich auch nicht. Der institutionelle Kontext leistet – wenn auch ungewollt – selbst einen Beitrag zur Einschränkung des Zugangs zu den Rechten, in diesem Fall den politischen Rechten. Dies beginnt schon beim Umgang mit den Stimmcouverts. Die Pflegefachleute fragen sich: Was ist mit diesen Couverts zu tun? Muss ich sie an alle verteilen? In diesem Zusammenhang besteht eindeutig Unkenntnis der Bundes- und Kantonsgesetzgebung. Allerdings herrscht in Bezug auf diese Fragen auch Rechtsunsicherheit. Sogar wir Politologinnen mussten uns an einen Juristen wenden. Sie haben die Dimension der Lebensqualität in Ihre Forschung integriert. Sgier: Ja, wir wollten eine Verbindung zwischen der politischen Partizipation und der Lebensqualität herstellen. Die rund 80 betagten Befragten gaben an, durch die Ausübung des Stimmrechts eine Entscheidungsbefugnis zu erhalten und sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Dies trägt zu ihrer Lebensqualität bei. Das Gleiche gilt für den Besuch von neutralen Aussenstehenden, mit denen die Betagten über Themen sprechen können, die sie beschäftigen und sonst selten zur Debatte stehen. Da war zum Beispiel ein ehemaliger Chefbuchhalter einer grossen Versicherungsgesellschaft, der eine Leidenschaft für AHV-Fragen hatte und die Problematik besser verstand als alle Politologen zusammen. Oder dieser andere Heimbewohner, ein ehemaliger Offizier, mit einer ganz klaren Meinung zum Kauf von Kampfflugzeugen. Man darf nicht vergessen, dass in Pflegeheimen Menschen leben, die sich nach wie vor für die politische Debatte interessieren. Das Leben endet nicht an der Tür zum Pflegeheim. Könnte die Verbindung mit der Lebensqualität ein Argument dafür sein, dass Pflegeheime der STUDIE IST ONLINE ZUGÄNGLICH «La citoyenneté politique comme dimensionde laqualitédevie»,B. Lucas, L. Sgier, M. Meigniez, Y. Delessert. Ab 26. September 2022 auf der Website der HETS Genf online verfügbar: www.hesge.ch/hets. «Die rund 80 befragten Betagten gaben an, sich durch die Ausübung des Stimmrechts als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Dies trägt zu ihrer Lebensqualität bei.» Lea Sgier, assoziierte Forscherin am Institut für Staatsbürgerschaft der Universität Genf Im Fokus

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