Magazin ARTISET_9-2022_Politische Partizipation

ARTISET 09 I 2022 3 Editorial «Die integrative Kraft unseres politischen Systems kann sich dann entfalten, wenn Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und Interessen daran teilnehmen.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Während ich diese Zeilen schreibe, diskutiert die Schweiz im Vorfeld der Abstimmung vom 25. September landauf, landab über das Pro und Contra zu vier nationalen Vorlagen. Vor allem zwei davon sorgen für leidenschaftliche Debatten: Soll das Rentenalter für Frauen auf 65 angehoben werden? Und: Sollen bei der Nutztierhaltung künftig höhere Standards gelten? Relevante Anliegen, die jede und jeden von uns betreffen und die wir als Stimmbürgerin und Stimmbürger mitgestalten können. Wer über das Stimm- und Wahlrecht verfügt und diese Rechte auch tatsächlich wahrnimmt, gehört dazu. Die Rahmenbedingungen für unser Leben mitbestimmen zu können – das war für mich seinerzeit der wesentliche Grund als Ausländerin mit Niederlassungsbewilligung, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beantragen. Seither ist es für mich ein grosser Gewinn, mich am politischen Prozess zu beteiligen, mich zu informieren, mir eine Meinung zu bilden und meine Meinung in Debatten zu schärfen. Die politische Partizipation und damit das Gefühl, ein vollwertiges Glied der Gesellschaft zu sein, bleiben indes vielen Menschen verwehrt. Nicht, weil sie diese ablehnen würden, sondern weil wir sie davon ausschliessen. So haben derzeit Menschen mit bestimmten kognitiven oder psychischen Behinderungen keinen Zugang zu den politischen Rechten. Das steht in einem klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention (Seite 10). Ebenfalls im Widerspruch zur UN-BRK können viele Menschen mit Behinderung nicht am politischen Prozess teilnehmen, weil ihnen schlicht die nötige Unterstützung fehlt. Darauf angewiesen sind auch viele betagte Menschen, die sich eine Teilnahme nicht mehr zutrauen oder für überflüssig halten. Die integrative Kraft unseres politischen Systems kann sich indes nur dann entfalten, wenn Menschen mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen sowie in unterschiedlichen Lebenssituationen daran teilnehmen, ihre Themen lancieren und zur Diskussion stellen. Dies fördert das Verständnis und den Respekt gegenüber der jeweils anderen Position. Damit verbunden ist ein Entwicklungspotenzial für die Gesellschaft sowie jedes einzelne Individuum. Mit den Beiträgen in diesem Heft zeigen wir, was Menschen mit Unterstützungsbedarf dazu beitragen, um sich und ihren Meinungen Gehör zu verschaffen – und was die Gesellschaft unternehmen kann, um sie in ihrer politischen Partizipation zu fördern. In einer besonderen Verantwortung stehen die Dienstleister. Beispielhaft ist das von der Stiftung Eben-Hézer in Lausanne gemeinsam mit dem Quartierzentrum Chailly gegründete Bürgerforum, wo Menschen mit und ohne Behinderung über politische Vorlagen diskutieren, jüngst über die AHV-Reform (Seite 14). Spannend sind auch Forschungsarbeiten aus der Westschweiz, die zeigen, welche Bedeutung die politische Partizipation für die Lebensqualität selbst hochbetagter Menschen hat (Seite 20). Ein erster zentraler Schritt zur Förderung der politischen Partizipation ist die Förderung der Mitsprache innerhalb der Institutionen – seien das Institutionen für Menschen mit Behinderung, für Betagte oder für Kinder und Jugendliche. Titelbild: Im Lausanner Quartierzentrum Chailly diskutierten am 3. September Menschen mit und ohne Behinderung über die Reform der AHV. Foto: Hélène Tobler

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