Magazin ARTISET_9-2022_Politische Partizipation

ARTISET 09 I 2022 7 Cem Kirmizitoprak konnte gar nicht anders: Sein Weg in die Politik war vorgezeichnet. Er lächelt breit, nimmt einen Schluck Espresso und erklärt in sympathischem St. Galler Dialekt, wie das kam: «Ich bin als Kurde in der Türkei geboren, da bekommt man von klein auf mit, dass Sachen ablaufen, die nicht in Ordnung sind, und wird automatisch politisch geprägt.» Kirmizitoprak sitzt aufgrund einer zerebralen Tetraspastik im Elektrorollstuhl. Ein weiterer Grund, immer wieder für seinen Platz und seine Rechte zu kämpfen. So entwickelte sich der inzwischen 30-Jährige im Lauf der Jahre zum umtriebigen SP-Politiker. «Vor zwei Jahren fehlten mir nur 600 Stimmen für den Eintritt ins Stadtparlament», sagt er, und ergänzt selbstbewusst: «Bei der nächsten Wahl sollte es reichen.» Und zwar ohne Behindertenquote, bewahre, das wäre ihm ein Graus: «Dann weisst du ja gar nicht, ob sie dich gut finden!» Er hingegen will komplette Gleichstellung. Deshalb ist Kirmizitoprak, Leiter der Beratungsstelle Inklusion und Initiator eines inklusiven Abstimmungskafis, ganz absichtlich manchmal ein aufmüpfiger Zeitgenosse. Als die regionale Spitex neu organisiert wurde, beschwerte er sich umgehend mit einer Medienmitteilung und Facebook-Posts: Die neue Organisation funktioniere so schlecht, dass er als täglicher Spitex-Kunde sogar mehrmals vergessen worden sei, kritisierte er. Daraufhin habe ihn eine Stadträtin harsch verbal angegriffen, weil er das so öffentlich gemacht habe. Er lacht schelmisch. «Das hat mich extrem gefreut.» Gefreut? «Klar, das heisst, man fasst mich nicht mit Samthandschuhen an, sondern nimmt mich für voll.» Dafür setzt er sich ein, unermüdlich, seit Jahren. Als 17-Jähriger beschloss Cem Kirmizitoprak, Gesellschaftsprobleme konkret anzugehen, und trat der Partei der Jungsozialisten bei. Seine Themen, das liegt auf der Hand, waren seit je Behinderung und Migration, aber auch viele andere: «Ich will als Politiker etwas für die ganze Gesellschaft bewirken.» Als sich vor ein paar Jahren Jugendliche für eine Beleuchtung an der Skatebahn Kreuzbleicheweg starkmachten, übernahm er kurzerhand ihr Anliegen, lancierte eine Unterschriftensammlung und lieferte schon bald 3000 Unterschriften im Stadtparlament ab. Das half, er strahlt, inzwischen ist der Skatepark beleuchtet. Und auf die oft gestellte Frage, warum er als Rollstuhlfahrer sich ausgerechnet für dieses Jugendthema einsetze, für eine Skatebahn, die er selber nie würde nutzen können, antwortete Kirmizitoprak jeweils lakonisch: «Politik machen wir doch nicht nur für uns. Wenn jemand exkludiert wird, setze ich mich ein!» Fragen rund um Inklusion und politische Teilhabe, ergänzt er, beträfen schliesslich nicht nur Menschen mit Behinderung, sondern auch Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen und viele andere. Er nimmt einen Schluck Espresso, dann wird er fast philosophisch: «Alles hat einen Zusammenhang.» Politik heisst Einsatz für alle Deshalb setzt sich Cem Kirmizitoprak für Gleichstellung auf jeder Ebene ein, findet, nicht nur «gewählt werden können», sondern auch «abstimmen und informiert sein, ohne dass man einen Doktortitel haben muss, um die Vorlagen zu verstehen» gehöre zur Teilhabe: «Wir diskutieren nicht umsonst über das Abstimmungsalter 16.» Exklusive Veranstaltungen gibt es bei ihm nicht. Für sein Abstimmungskafi beispielsweise habe er Trick 77 angewandt und mit Easyvote zusammengespannt, jener Gruppierung, die vereinfachte Abstimmungsbroschüren für Jugendliche gestaltet: «Dank dieser Zusammenarbeit fühlen sich nicht nur Menschen mit Behinderung angesprochen, sondern auch Jugendliche und bestenfalls deren Eltern.» Ein Anlass für alle, so lautet sein Ziel, Inklusion pur. Am 1. September fand das Kafi zum dritten Mal statt, der Ablauf hat sich gut bewährt: Easyvote erklärt jeweils 20 Minuten lang die Vorlagen, danach äussern sich zwei Politikerinnen oder Politiker, je jemand von Links und Rechts. «Das ist keine SP-Veranstaltung, sondern Inklusion», stellt Kirmizitoprak klar. Finanzielle Unterstützung erhält das Kafi noch bis nächstes Jahr vom Kanton St. Gallen, danach wird er schauen, wie er es weiter finanzieren kann. Aber immerhin, er strahlt, ein Echo habe er geschafft. Die Idee dazu kam ihm an einem Netzwerktreffen des Brachenverbands Insos, bei dem Arbeitsgruppen jeweils ein inklusives Projekt für politische Teilhabe entwickeln sollten. Eine passende Gruppe für sich fand er dort nicht, sie waren ihm alle zu wenig radikal. Er schüttelt den Kopf, als er daran zurückdenkt, wie die anderen fanden, man müsse unbedingt die Institutionen auf das Thema aufmerksam machen. «Nein, die kennen doch das Thema längst!», ruft er vehement. Er hingegen wollte weit mehr: «Sie sollen es umsetzen!» Cem Kirmizitoprak ist keiner, der wartet, dass Bund, Gemeinden oder Institutionen etwas für ihn übernehmen, Der 30-jährige Cem Kirmizitoprak ist umtriebiger SP-Politiker, Leiter der Beratungsstelle Inklusion und Initiator eines inklusiven Abstimmungskafis. Inklusion, fordert er, müsse auf allen Ebenen stattfinden. Dafür kämpft er mit viel Schwung und Einfallsreichtum. Von Claudia Weiss

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