Wenn die seele hilfe braucht | Magazin ARTISET |10-11-2023

ARTISET 10/11 I 2023 15 Ruhig schüttet Christian Heiniger etwas Zucker in den Cappuccino, dann lehnt er sich zurück und erzählt. Von der ersten Depression mit 15 nach der Scheidung der Eltern, dem Kiffen und dem Alkohol, mit dem er sich selbst zu helfen versuchte. Der Effekt: «Mit 18 war ich Alkoholiker.» Seinen ersten Entzug zog Heiniger nach bestandener Maturaprüfung stationär in einer Fachklinik durch. Dort bekam er Valium, um die Entzugskrämpfe zu lindern, später erhielt er von seinem Psychiater hochdosierte Antidepressiva gegen die Depressionen. «So geriet ich in den Strudel», sagt er: Alkohol, Alkoholentzug, Psychopharmaka, Medikamentenentzug – und dann wieder von vorne. Bis der heute 40-Jährige die richtige Diagnose bipolare Störung Typ II erhielt, dauerte es noch Jahre. Daher begann er, selbst auszuprobieren, und behalf sich zwischen Klinikaufenthalten und Therapien während 20 Jahren eigenmächtig: «Bei Hypomanie trank ich, gegen Depressionen halfen Aufputschmittel», erzählt er sachlich. Am 1. Januar 2020 schaffte es Christian Heiniger, endgültig vom Alkohol wegzukommen, andere Drogen meidet er schon lange. Heute begleitet er als Ex-In-zertifizierter Peer andere psychisch kranke Menschen während ihres Aufenthalts in der Klinik. Psychopharmaka, ihre Nebenwirkungen und der Umgang damit sind Themen, die dabei immer wieder auftauchen. Für solche Fragen ist er der Richtige, nicht umsonst nennt ihn sein Hausarzt «Doktor Compendium», nach dem dicken Katalog, in dem alle Medikamente samt Wirkung und Nebenwirkungen aufgeführt sind. Sein Vater, medikamentenabhängig, hatte das Compendium im Büchergestell stehen, er selbst schmökerte schon als Kind darin, um die Situation seines Vaters zu verstehen. Noch heute verschlingt Heiniger internationale Psychiatriestudien, und er kennt alle gängigen Psychopharmaka – die meisten dem Namen nach, viele aus eigener Erfahrung. Zuerst die Hypomanie, dann die Depression Heinigers Hirn ist fix und seine Gedanken fliegen blitzschnell in alle Richtungen, es ist nicht immer einfach, ihm zu folgen. Er zeigt sein sympathisches Lächeln, ja, es könnte sein, dass er soeben eine leichte Hypomanie durchmacht, er fühle sich gerade ziemlich erleichtert, weil sich ein belastendes Problem wie von selbst gelöst habe. In solchen Phasen schläft er nicht länger als drei, vier Stunden pro Nacht und fühlt sich am Morgen dennoch klar und munter. Vor vier Jahren wurde bei ihm endlich eine bipolare Störung Typ II diagnostiziert, und er fand zusammen mit seinem Psychiater die richtige Therapie. Aber er weiss, wie sich eine Hypomanie anfühlt, nächtelang kaum zu schlafen, tausend Ideen im Kopf zu haben und voller Energie vieles anzupacken – «ein tolles Gefühl». Eines, das er bezahlt, indem er nach ein paar hochfliegenden Tagen in eine Erschöpfungsphase gerät und kaum mehr zum Bett herauskommt. Darum hat er in seinem Medikamentenschrank für alle Fälle die wichtigen Psychopharmaka in Reserve, muss sie aber dank seinem Wissen und der guten Zusammenarbeit mit dem Psychiater nicht ständig einnehmen. Inzwischen kann er in ständiger Absprache mit seinen Ärzten mitbestimmen, was er wann einnimmt: täglich einen Stimmungsstabilisator und ein spezielles Antidepressivum, das auch gegen Narkolepsie hilft. Wenn eine hypomanische Phase ausser Kontrolle gerät, hat er ein Fläschchen des atypischen Antipsychotikums Risperdal in Reserve, von dem er selbstständig ein bis zwei Milligramm zum Herunterkommen einnehmen kann. «In intensiver Therapie mit meinem Psychiater lernte ich die Frühwarnzeichen und allfällige Auslöser kennen», sagt er. Dank dieser Psychoedukation komme er mit einer viel geringeren Fixmedikation durch als andere mit derselben Diagnose. Oft hört er jedoch von anderen, dass sie viel zu wenig aufgeklärt sind. Deshalb teilt Heiniger seine Erfahrungen mit anderen Betroffenen und drängt sie, unbedingt bei den Ärzten nachzufragen, nachzuhaken und sich bewusst zu machen, dass sie das Recht haben, mitzureden. «Mitbestimmung und eine gute Aufklärung sind dringend nötig», betont er. «Oft könnte man Medikamente anders dosieren oder kombinieren und so das Ziel erreichen, deutlich weniger Fixmedikamente einnehmen zu müssen.» Er selbst hat in seinem Leben über 30 verschiedene Psychopharmaka verschrieben bekommen. Längst nicht alles hat geholfen, manche Nebenwirkung war schwerwiegender als die unterstützende Wirkung. Von Harnverhalt über Kopfweh bis Wattegefühl Die schlimmsten Nebenwirkungen? Er überlegt, dann zählt er auf: Benzodiazepine machen müde, lustlos und vor allem abhängig. Antipsychotika verleihen ein Gefühl, völlig benebelt und abgelöscht zu sein, und haben oft gravierende Spätfolgen wie irreversible nervöse Zuckungen und Grimassieren. Nebenwirkungen könne man zwar mit dem Gegenmittel Akineton aufheben, «aber es ist nicht vergnüglich, ständig eine Menge Psychopharmaka plus dazugehörige Gegenmittel zu schlucken». Hautausschläge, Depersonalisierung, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Harnverhalt, Magenkrämpfe, Veränderungen des Blutbildes, bei Langzeitgebrauch auch Leber- und Nierenschäden, die Liste ist lang, und die Nebenwirkungen seien bei ihm oft lange vor der eigentlichen Wirkung eingetreten. Zudem empfand er den Entzug von Schlaf- und Beruhigungsmitteln als «vor allem psychisch viel härter und langwieriger als von Alkohol». Heiniger hat auch erlebt, wie es sich anfühlt, wenn ein Medikament jedes Sättigungsgefühl verhindert: Er nahm innert weniger Wochen 15 Kilogramm an Gewicht zu,

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