Wenn die seele hilfe braucht | Magazin ARTISET |10-11-2023

16 ARTISET 10/11 I 2023 von Libidostörungen gar nicht zu reden. Immerhin: Dank Recherchen hat er schnell herausgefunden, dass es ein Medikament gibt, das seinen Libidoverlust sofort aufhob. Über solch hilfreiche Erkenntnisse informiert er als zertifizierter Genesungsbegleiter auch andere Betroffene, die bei ihm Rat suchen, weil sie Hemmungen haben, ihre Psychiaterin oder ihren Therapeuten darauf anzusprechen. «Die schlimmste Nebenwirkung», sagt Heiniger dann, «ist dieser Teufelskreis, den man nur schwer durchbrechen kann.» Er kennt das Balancieren zwischen Symptombekämpfung und chemischem Deckel, dieses Abwägen, was momentan das geringere Übel ist. Seine Maxime lautet: «So wenig wie möglich, so viel wie für eine gute Lebensqualität nötig.» Viele Betroffene erhalten allerdings über Jahre hinweg Psychopharmaka verschrieben, ohne ausführlich aufgeklärt zu werden. Und obwohl das Problem bekannt ist: «Psychopharmaka und ihre Nebenwirkungen», erklärt Nadia Pernollet, «gehören zu den meistdiskutierten Themen – bei Betroffenen und Fachleuten.» Pernollet ist psychosoziale Beraterin bei Pro Mente Sana und hat lange als Psychiatriepflegefachfrau gearbeitet, oft stationär und mit jungen Menschen, die eine Erstdiagnose erhielten. Dabei hat sie immer wieder mitbekommen, wie weit die Meinungen zum Thema Psychopharmaka auseinandergehen. Egal, welche Ausrichtung die Fachleute vertreten, für sie ist vor allem eines wichtig: «Fachpersonen müssen sauber aufklären und gemeinsam mit den Betroffenen die geeignete Therapieform suchen.» Die Betroffenen seien Expertinnen und Experten aus persönlicher Erfahrung, und die therapeutischen Fachpersonen müssten sie unbedingt ermutigen, beim Umgang mit ihrer Krankheit mitzubestimmen. Wichtig: Ein grosses Umdenken in der Psychiatrie Das rät sie auch allen Betroffenen, die sie auf der Beratungsstelle kontaktieren: «Sie dürfen für ihre Anliegen einstehen, Aufklärung verlangen und Alternativen erfragen.» Sie weiss, dass oft schon junge Menschen mit einer Erstdiagnose «Psychose» hören, sie müssten ihr Leben lang Psychopharmaka einnehmen. Stationäre Aufnahmen würden oft davon abhängig gemacht, ob jemand in eine medikamentöse Therapie einwillige. Da sei allerdings ein grundlegendes Umdenken nötig, fordert sie: «Es gibt keine Zauberpillen, die eine psychische Erkrankung heilen – es geht vielmehr darum zu erfahren, was dahintersteckt, und zu lernen, wie man das Leben damit gut gestalten kann.» Dafür seien die Beziehungen zwischen Fachpersonen und Betroffenen zentral, nicht bloss die symptombekämpfenden Medikamente. Denn symptomfrei heisse nicht gesund: «Es geht um Lebensqualität!» Ein trockener Mund als anfängliche Nebenwirkung während der ersten drei Wochen sei zumutbar, aber wenn ein Medikament langfristige, einschneidende Nebenwirkungen erzeuge, sei die Lebensqualität drastisch eingeschränkt. Gerade Libidostörungen, hat sie festgestellt, sind ein grosses Thema, aber auch ein grosses Tabu: «Viele Betroffenen wagen aus Scham nicht, das anzusprechen. Therapeutinnen und Therapeuten wiederum denken, wenn die Leute das nicht selbst ansprechen, sei es wohl auch kein Thema.» Dabei sei dieses sensible Thema besonders für junge Menschen oft sehr wichtig. Für Nadia Pernollet ist klar: «Es braucht viel Begleitung, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, sich einzulassen, wenn Betroffene keine medikamentöse Therapie möchten.» Dass Fachpersonen davor zurückschrecken, sei verständlich angesichts des Kosten- und Zeitdrucks – «in drei Wochen auf der Akutstation kann man keine Depression behandeln» –, aber dennoch nicht zielführend. Gute Beispiele gibt es, aber nicht genug Geld Sie hofft auf ein grundsätzliches Umdenken in der Psychiatrie und wehrt sich auch gegen Stempel wie «non-compliant», die jenen Betroffenen verpasst werden, die ihre Psychopharmaka hinterfragen: Das bedeute nämlich kurzum, sie befolgen ärztliche Anweisungen nicht und seien deshalb schwierige Patientinnen und Patienten. «Betroffene müssen aber nicht einfach gehorchen, sie sollen mitbestimmen!», fordert Pernollet. Anderen wird Angst gemacht, dass bei frühzeitigem Absetzen ein Rückfall droht – oft ein zu grosser Druck, der die Betroffenen entmutigt. Könnte Nadia Pernollet entscheiden, sie hätte eine einfache Lösung: «Eine Orientierung an Good-Practice-Modellen wie der Soteria.» Das ist jene Berner Einrichtung, in der Menschen in einer akuten Psychose in einem reizarmen Raum eng und menschlich begleitet werden und Psychopharmaka nicht im Zentrum der Behandlung stehen. Zwar ist das nicht einfach angesichts der finanziellen Lücken und des Mangels an Pflegefachpersonal, Psychiaterinnen und Therapeuten. Machbar fände sie allerdings, angehende Psychiaterinnen und Psychiater bereits in der Ausbildung zu schulen: dass sie die Betroffenen ernst nehmen, dass sie diese bei der Therapieplanung mit einbeziehen, dass sie sich auf eine Begleitung – auch ohne Psychopharmaka – einlassen. «Und dass sie nicht Symptomfreiheit als oberstes Ziel definieren, sondern Lebensqualität.» Christian Heiniger hat einen Therapeuten gefunden, der ihn auf seinem selbstbestimmten Weg unterstützt und ihn mitbestimmen lässt. Ausserdem hat er auf einer langen Reise durch Thailand erfahren, wie gut ihm Meditation hilft. Sein persönliches Ziel: dauerhaft so wenig Medikamente wie möglich. Er weiss genug, dass er mitteilen kann, was er im Moment braucht, und auch, was er nicht will. Sein Traum: «Als Peer anderen helfen, sodass sie ebenfalls wagen, selbstbestimmt und auf Augenhöhe mitzureden.» ➞ Peerberatung: christian-heiniger.ch Ratgeber Psychopharmaka von Pro Mente Sana: Im Fokus

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