Erfahrungen teilen

ARTISET 12 I 2022 27 auf diese Weise zu mehr Inklusion beitragen kann: «Ich verschaffe diesen Menschen Zugang zu Dingen, die ihnen vorher verwehrt waren.» Dies ist jedoch nicht so einfach, denn man muss den Menschen in seiner Ganzheit betrachten, mit seinen Schwierigkeiten und Fähigkeiten, und seine Anliegen verstehen. «Es erfordert ein offenes Ohr, Empathie, Geduld, manchmal Gelassenheit, wenn man zehn Mal das Gleiche wiederholen muss», erklärt Dylan Yenni. «Ich verfüge über viele dieser Qualitäten. Und an den anderen arbeite ich. Vor allem die Geduld ist nicht immer meine Stärke.» Inklusionsbegleitende sind kein Ersatz für Sozialarbeitende, sondern eine Ergänzung. Ihr Vorteil ist, dass sie über die notwendige Zeit für die Begleitung ihrer Peers beim Erlernen der Selbstständigkeit verfügen. Doriane Gangloff nennt als weiteres Zulassungskriterium für die Ausbildung ein hohes Mass an Verständnis. Die Sozialpädagogin arbeitet heute als Erwachsenenbildnerin und Ausbildungsverantwortliche für die Inklusionsbegleitung: «Das Übertragen der Kompetenzen von Peer zu Peer kann sehr komplex sein. Man muss Abstand nehmen können, wissen, wie man Fragen stellt, Beweggründe erläutern und Überlegungen teilen.» Peer-Helfer soll als Beruf anerkannt werden Aktuell bereite ihr jedoch die Ungewissheit Sorgen, wie sich diese neue Rolle mangels Status weiterverbreiten soll. «Die Peer-Hilfe soll ein neuer, anerkannter und bezahlter Beruf werden und nicht eine Freiwilligenarbeit», sagt Doriane Gangloff. Diese Ambition scheitert jedoch am Rentenberechnungssystem der IV, mit der Gefahr, dass sich die Situation der Inklusionsbegleitenden verschlechtert. Um dagegen anzukämpfen, werden verschiedene Lösungen geprüft. Einerseits muss die Entschädigung der Peer-Inklusionsbegleitenden geregelt werden, andererseits geht es um die berufliche Anerkennung durch Ausstellung eines offiziell anerkannten Qualifikationsnachweises, und sei es nur vonseiten der Berufsverbände. In der Zwischenzeit geht Dylan Yenni weiter seinen verschiedenen und zahlreichen Tätigkeiten nach. Jeden Tag hilft er seinem Cousin zweiten Grades bei den Arbeiten auf dem Bauernhof und kümmert sich um die Hunde und Pferde. Zweimal wöchentlich ist er in Freiburg für die SBB als Bahnhof-Pate im Einsatz, und bei der Fahrgastinformation der Transports publics lausannois arbeitet er als Aushilfe auf Abruf. Im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit der HETS in Genf tritt er weiterhin gemeinsam mit Doriane Gangloff als Co-Ausbildner auf. Sie sensibilisieren in Institutionen die Sozialarbeitenden und Menschen mit Behinderung für die UN-BRK und die Menschenrechte im Allgemeinen. Dylan Yenni hat noch viele andere Projekte im Kopf, vor allem im Zusammenhang mit Tieren, aber im Moment möchte er noch nichts dazu sagen. DIE AUSBILDUNG IN INKLUSIONSBEGLEITUNG Das europäische Projekt MEDIA (Mainstream for the Empowerment of Disabled people in an Inclusive Approach) wurde von 2019 bis 2021 durchgeführt und vom EU-Programm Erasmus+ finanziert. Forschungsteams aus Frankreich, Belgien, Griechenland und der Schweiz arbeiteten gemeinsam an vier Dimensionen der Inklusion: Arbeit, Wohnen, soziale Teilhabe und Zugang zu Verwaltung und Gesundheitsversorgung. Die Schweizer Forschenden konzentrierten sich hauptsächlich auf den Lebensraum und den Auftrag zur Schaffung eines Lehrgangs für Peer-Inklusionsbegleitende. Zwischen Januar und März 2021 wurde eine Pilot-Ausbildung mit den Schwerpunkten Wohnen und selbstbestimmte Lebensführung durchgeführt. Fünf junge Erwachsene mit Behinderung nahmen an zwei Halbtagen pro Woche daran teil. Die Ausbildung umfasste drei Module: ■ Allgemeinwissen, einschliesslich Kenntnisse über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die verschiedenen Behinderungsarten und selbstbestimmte Wohnformen ■ die Kompetenzen der Peer-Hilfe, einschliesslich zwischenmenschlicher Beziehungen, Konfliktmanagement, Situationsbeurteilung und Entwicklung der Vermittlerhaltung ■ das Umfeld, das heisst Kenntnisse der physischen und architektonischen Umgebung im Einsatzgebiet, zentrale Akteure und zur Verfügung stehende Ressourcen. Die Ausbildung schliesst mit einem 20-stündigen Praktikum in einer Institution und einem Ausbildungsnachweis ab. Der Verein Actifs führt den Lehrgang für Inklusionsbegleitende im Programm 2022–2023. ➞ www.actifs-ge.ch Im Fokus «Das Übertragen der Kompetenzen von Peer zu Peer kann sehr komplex sein. Man muss Abstand nehmen können, wissen, wie man Fragen stellt, Beweggründe erläutern und Überlegungen teilen.» Doriane Gangloff, Sozialpädagogin

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