Erfahrungen teilen

ARTISET 12 I 2022 45 Roger Wicki sitzt auf der Terrasse des «Seeblicks, Haus für Pflege und Betreuung» in Sursee LU und blickt in die letzte warme Herbstsonne. Neben ihm liegt eine Ausgabe des Buchs über die Geschichte der Luzerner Kinder- und Jugendsiedlung Utenberg*. Ein Stück davon ist auch seine Geschichte: Als Bub verbrachte er ein paar Jahre in der Siedlung Utenberg, im Buch ist sogar ein Foto mit ihm abgedruckt. Zu Heimen hat Wicki deshalb einen doppelten Bezug, denn seit bald zwanzig Jahren ist er Co-Geschäftsleiter im Pflegeheim Seeblick. Damit hat der 58-Jährige den Weg vom Heimkind zumHeimleiter gemacht. Einen weiten Weg, wie er sagt. Er deutet auf das Buch und erzählt von der Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaft ZHAW, Soziale Arbeit, die 2017 veröffentlicht wurde: «Zwei von fünf Heimkindern sind laut dieser Untersuchungmit ihrem Leben zufrieden», fasst er zusammen und schüttelt leicht den Kopf: «40 Prozent – das ist keine tolle Zahl: Das heisst nämlich, 60 Prozent sind nicht zufrieden.» Oder sie haben es gar nicht geschafft, im Leben Wurzeln zu fassen. Ganz zu schweigen davon, dass nur ungefähr fünf von hundert ehemaligen Heimkindern im späteren Leben wirklich psychisch robust und einigermassen resilient sind. Er legt die Hand auf das Buch, schirmt die Augen gegen die Sonne ab und lächelt leicht. «Ich kann mich glücklicherweise dazuzählen», sagt er. Das allerdings verdanke er einigen wichtigen Menschen in seinem Leben, unter anderem seinem grossherzigen Mäzen, einem Pfarrer, der ihn nicht nur immer wieder motiviert, sondern auch finanziell unterstützt hatte. Stempel Kinderheim Dennoch: «Es braucht einen enormen Effort, mit solchen Startbedingungen eine Hochschulausbildung zu machen.» Ihm hätten zwar ein Maximalstipendium und ein Darlehen das Studium an der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule der Fachhochschule Zentralschweiz ermöglicht. «Aber am Ende stand ich mit 50 000 Franken Schulden da.» Wie andere Careleaver hatte er keine Unterstützung von zu Hause, weder finanziell noch emotional. Und er hatte auch später keine Erbschaft zu erhoffen, wie er das jetzt bei gleichaltrigen Kollegen immer wieder miterlebt. All diese mangelnden Sicherheiten, darauf kommt er im Gespräch mehrmals zurück, seien die wirklich schwierigen Themen. Im Rückblick waren es nicht die sieben Jahre im Heim, die ihm am meisten zu schaffen machten. Als belastend erlebte er vielmehr den Moment, in dem diese starke Struktur wegfiel und er auf sich selbst zurückgeworfen wurde, ohne stützende Eltern. Diese Zeit, in der Berufswahl, KV-Lehre, Rekrutenschule und erste Schritte in die Berufswelt kurz aufeinanderfolgten, erlebte er sozusagen als freien Fall ins Leere. In den Jahren zwischen 20 und 30 quälte er sich durch massive Krisen: Panikattacken, eine Angststörung und depressive Verstimmungen machten ihm das Leben schwer. Er überlegt kurz, dann sagt er, im Rückblick gesehen sei die Zeit im Kinderheim sogar richtig gut gewesen: «Ich spielte Theater und Fussball, wir spielten im Freien, und ich machte eine Ausbildung zum Tambour. Einige Erzieherinnen haben sich wirklich sehr für uns eingesetzt.» Insgesamt habe er eine wesentlich schönere Kindheit erlebt als zu Hause bei einer abwertenden Mutter, sagt er überzeugt. «Nicht immer ist die Familie besser.» Aber geprägt hat ihn diese Erfahrung dennoch: Es war noch die Ära der autoritären Erziehung und der Kollektivstrafen: Ging beim Fussballspiel eine Scheibe zu Bruch, durften alle nicht mehr Fussball spielen, war an der Fasnacht einer betrunken, hatten alle Fasnachtsverbot. Roger Wicki hatte 15 Bezugspersonen in sieben Jahren, und die zugänglicheren, die ab und zu ein Auge zugunsten ihrer Schützlinge zudrückten und sie etwa am Samstag ein paar Minuten früher springen liessen, damit sie den stündlichen Bus noch gerade erwischen konnten, seien nach kurzer Zeit wieder weg gewesen. «Die Weisungen standen über allem, das Emotionale war nicht gefragt.» Was ihn aber schon als Zehnjährigen ammeisten beschäftigte, war der Stempel, den die Kinder der Jugendsiedlung Utenberg trugen. Teils sogar deutlich sichtbar, beispielsweise, wenn sie gemeinsam im Regen unterwegs waren – Mit 58 Jahren blickt Roger Wicki zurück auf seinen Werdegang vom Kinderheim über ein Wirtschaftsstudium zum Geschäftsleiter des Pflegeheims Seeblick Sursee LU. Der Weg sei holprig gewesen: «Careleaver brauchen bessere Rahmenbedingungen für gerechtere Startchancen.» Von Claudia Weiss

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