Erfahrungen teilen

8 ARTISET 12 I 2022 Monate im betreutenWohnen, ein Rauswurf, ein Aufenthalt im Krisenzentrum, ein stationärer Aufenthalt in der Universitären Psychiatrischen Dienste UPD Bern, wieder betreutes Wohnen, Salome Balasso hat den Überblick über all die wechselnden Stationen verloren. Ein Monat Timeout mit dem «Projekt Alp» auf einem abgelegenen Bauernhof und danach die Aufnahme auf dem Bauernhof einer festen Gastfamilie brachten der 16-Jährigen erstmals ein bisschen Stabilität: «Die drei Töchter waren für mich wie jüngere Schwestern», erzählt sie mit einem Lächeln. Eine gute Zeit sei das gewesen, die Familie ihr nah. Deshalb mochte sie sich selbst diesen Menschen nicht mehr länger zumuten, als es schwieriger wurde, und zog mit 18 Jahren wieder aus. Aus der Psychiatrie, in die Psychiatrie… Bald darauf öffnete sich für sie die «Drehtür» zur Psychiatrie wieder. Und wieder. Bis sie mit 19 Jahren zwei wichtige Wendepunkte erlebte: Zum einen erhielt sie die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), «zugleich eine Erleichterung als auch ein Stempel». Zum anderen lernte sie in der Klinik ihren sechs Jahre älteren Freund Christian Heiniger kennen, er mit den Diagnosen Bipolare Störung und Alkoholabhängigkeit. Seit drei Jahren trinkt er keinen Alkohol mehr, und seit sechs Jahren arbeitet er als Peer. Salome Balassos Augen leuchten, wenn sie von ihm spricht. «Alle sagten, das könne niemals gut gehen, die Fachleute in der Klinik waren strikt gegen unsere Beziehung», erzählt sie. Sie hätten jedoch komplett falsch gelegen: «Das ist jetzt 14 Jahre her, und wir leben immer noch zusammen.» Und das, nachdem sie sich in der Klinik als völlig hoffnungsloser Fall gefühlt hatte und eine gestützte Verkaufslehre abbrechen musste. Wichtige Impulse hat sie in der Selbsthilfegruppe bei Momo Christen erhalten, die in ihrem Buch «Sprung ins Leben. Meine Geschichte» ihre persönlichen schwierigen Erfahrungen beschrieben hat. «Diese Stunden haben mir enorm geholfen», sagt Salome Balasso. «Momo vermittelte mir das Gefühl, ich könnte es wieder aus der Psychiatrie schaffen.» Tatsächlich haben Selbsthilfegruppe, Peer-Weiterbildung und die vielen anderen Weiterbildungen aus dem haltlosenTeenager eine starke junge Frau gemacht, die weiss, wie sie in Momenten der Anspannung sich selbst und anderen Betroffenen helfen kann. Sie schreibt auf ihrem Instagram-Kanal «salome_skillskiste» als Mental-Health-­ Aktivistin über Themen, die sonst tabuisiert werden. «Damit möchte ich besonders junge Menschen ansprechen.» Sorgfältig hebt sie ihren selbstgeflochtenen Skills-Korb aus der Tasche, legt einen Gegenstand nach dem anderen auf denTisch: Spiralgummi, Duftsticks mit Pfefferminz und Ammoniak und ein Töpfchen mit scharf riechendem Tigerbalsam. «Mein Mini-Skills-Koffer», erklärt sie, und nimmt eine kleine stachlige Metallkugel in die Finger, ihr Lieblingsstück. Rasch dreht sie diese zwischen den Händen hin und her, das erzeugt auf den Fingern einen starken Reiz, der Anspannung löst. Diese Gegenstände sind wichtige Hilfsmittel, ihre Skills, die sie laufend ergänzt und in ihren Kursen auch verkauft. Sie helfen, wenn jemand das Bedürfnis hat, sich selbst zu verletzen, wie sie während langen Jahren. Heute steht sie unverkrampft dazu und versteckt ihre Narben nicht, «sie gehören zu mir und meiner Geschichte». Einblicke für Fachleute Und mit dieser Geschichte, ihrer ganzen Erfahrung, gibt Salome Balasso auch Fachleuten wichtige Einblicke. Sie kann beispielsweise erklären, dass es wenig hilft, Druck zu machen, wenn jemand sich in der Psychiatrie trotz gegenteiliger Abmachung selbst verletzt oder Medikamente missbraucht hat: «Man fühlt sich eh schon schlecht genug und als Versagerin. Da hilft positive Unterstützung viel besser als Druck – eine aufmunternde Bemerkung beispielsweise, dass man es ja immerhin schon zwei Monate geschafft hat, ohne sich zu schneiden.» Sie kann den Psychiatriepflegefachpersonen aber auch Druck nehmen, indem sie ihnen erklärt, dass sie nicht vor lauter Angst, etwas zu triggern, Fragen oder bestimmte Gesprächsthemen vermeiden sollen: «Bei einer Traumafolgestörung kann alles ein Trigger sein, auch wenn es für Aussenstehende noch so klein scheint. Selbst ein vorbeifliegender Vogel.» Salome Balasso hat in solchen Momenten gelernt, sich selbst zu helfen, sie entspannt sich mit Meditation und Achtsamkeitsübungen und tankt Kraft in der Partnerschaft und beim Kuscheln mit der Katze. Ammeisten Energie verleihen ihr jedoch Aussagen wie die einer Patientin, die ihr kürzlich nach der Emotionsregulationsgruppe in der UPD Bern sagte: «Weisst du, jeden Freitag sehe ich an deinem Beispiel, dass es noch ein Leben nach der Klinik gibt.» Oder das Lob einer Psychiatrie-Pflegefachfrau, die ihr sagte: «Dank euch Peers habe ich gelernt, anders zu denken und nicht nur <Drehtürpatienten> zu sehen, die immer wieder in die Psychiatrie zurückkehren, sondern Menschen mit Ressourcen.» Solche Aussagen helfen ihr, wenn es mal wieder schwieriger wird. Sie weiss inzwischen: «Rückfälle dürfen sein, Recovery dauert ein Leben lang.» PEERAUSBILDUNG EX-IN Seit 2010 bietet der Verein Ex-In Schweiz Menschen mit Krisenerfahrung eine Weiterbildung zum oder zur Peer. Diese dauert ein Jahr und beinhaltet zwölf dreitägige Module mit 300 Stunden Selbststudium und 190 Stunden Praktika. Wichtige Elemente sind Recovery und Empowerment: Selbstbestimmung, Sinnfindung und Verwirklichung. Die Peer-Weiterbildung ist bis Herbst 2024 ausgebucht. ➞ www.ex-in-schweiz.ch ➞ positiveraendere.ch Im Fokus

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