Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 15 Im Fokus geschlossen. Im Inneren ist der Freiraum, die Freiheit, dafür umso grösser. «Wir lassen jeden Menschen so sein, wie er ist,» benennt Gerd Kehrein, der Leiter Bildung, ein wichtiges Prinzip im Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Und dieses schliesse auch ein, dass die Menschen «das tun können, was für sie sinnvoll ist.» Das muss aber überhaupt nicht dem entsprechen, was wir gemäss unseren landläufigen Vorstellungen und Normen als sinnvoll empfinden. «Wir haben eine völlig andere Normalität bei uns im Haus», unterstreicht denn auch Doreen Prüher. So werde etwa das Umherlaufen nicht als ziel- oder sinnlos betrachtet, die Menschen werden vielmehr dabei unterstützt, ihren Bewegungsdrang leben zu können. «Die Türen sind nicht geschlossen, alle können sich innerhalb des Gebäudekomplexes und im Garten frei bewegen», betont Prüher. In der Nacht ist einzig der Zugang zum Garten zu. Offen sind gerade auch die Türen zu Stationen und Wohngruppen. «Alle sind überall willkommen.» Und während sie über die Flure laufen, können sie sich an den überall verteilten Essensstationen bedienen. Öfter kommt es vor, dass sich jemand in das Bett eines anderen legt oder auf dem Sofa in einer anderen Wohngruppe übernachtet. Zudem kann es schon mal sein, dass ein Bewohner auf dem Fussboden schläft, wo er oder sie dann vom Personal zugedeckt wird. Mit «In der Demenz wird die Norm zur Un-Norm, wobei Un-Norm mit Chaos gleichgesetzt werden kann», benennt Gerd Kehrein einen langjährigen Leitgedanken der Sonnweid, um dann – bewusst provokativ – zu schlussfolgern: «In der Sonnweid wird das Chaos zur Norm.» Für Angehörige oder Besucher kann das gewöhnungsbedürftig sein. Zum Beispiel, wenn jemand am Tisch aus dem Glas seiner Nachbarin trinkt oder das Unterhemd über dem Pullover trägt. Oder wenn eine Bewohnerin aus einer Rabatte im Garten Pflanzen herauszieht, um diese anderswo wieder einzusetzen, oder wenn es für jemanden Sinn macht, das Badezimmer umzubauen. «Zu einem freien, selbstbestimmten Leben gehört, dass die Menschen bei uns weitgehend selbst entscheiden, was sie tun möchten oder auch nicht tun möchten», unterstreicht Prüher – und fügt bei: «Wir versuchen einen Menschen mit Demenz nicht mit seinen Defiziten zu konfrontieren. Er oder sie ist nicht falsch, wir nehmen an, was ist, und das ist richtig so.» In Beziehung sein Diese Haltung, Menschen mit Demenz in ihrem Anderssein anzunehmen, lasse diese zur Ruhe kommen, beobachtet Doreen Prüher. Mit «annehmen» meint sie, dass die Mitarbeitenden die Menschen nicht einfach nur Ein kleiner Wasserfall purzelt über dunklen Stein – mitten im Gebäude vom zweiten Stock ins Erdgeschoss. Man fühlt sich fast wie auf einem Wanderweg, wenn man das Rauschen des Wassers und die liebevoll mit Pflanzen und Holzelementen gestalteten Biotope von der die Stockwerke verbindenden Rampe aus auf sich wirken lässt. Mehrere Nischen laden ein, innezuhalten und sich auszuruhen. «Vielleicht erinnert sich jemand an Ferien in den Bergen», sagt Pflegedienstleiterin Doreen Prüher. «Vor allem aber möchten wir unseren Bewohnerinnen und Bewohnern, auch den Mitarbeitenden, ein angenehmes Gefühl vermitteln.» Wir befinden uns mitten in der Sonnweid-Welt, in einem der sechs weitläufigen, miteinander verbundenen Gebäude, dem Zuhause von 174 Menschen mit mittlerer bis schwerer Demenz. Sie wohnen und bewegen sich in grosszügigen, lichtdurchfluteten Räumen, an den Wänden hängen Bilder und Fotos. Die unterschiedlichen Farben von Gängen und Wänden setzen wohnliche Akzente und schaffen Orientierung. Von allen Bereichen aus gibt es Zugänge zur weitläufigen Gartenanlage mit verschlungenen Wegen und Winkeln. Es lässt sich erahnen, dass die Bewohnenden hier, vom Frühling bis in den Herbst hinein, so manchen Wohlfühlmoment geniessen können. Eine völlig andere Normalität Die Sonnweid-Welt, am Rand von Wetzikon im Kanton Zürich, ist ein Kosmos für sich. Zur Aussenwelt sind die Türen

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