Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Im Fokus Identität leben und gestalten Wie fürsorgerische Zwangsmassnahmen der Eltern auch noch ihre Kinder prägen Das schweizweit stattfindende Tanzfestival Steps verfolgt einen inklusiven Ansatz Curaviva-Gechäftsführerin Christina Zweifel fördert den Austausch mit der Romandie Ausgabe 03 I 2024

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ARTISET 03 I 2024 3 Editorial «Beziehungen, welche die Menschen in ihrer persönlichen Eigenart anerkennen, haben einen wichtigen Einfluss auf die Gestaltung der Identität» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Wer bin ich? Weshalb bin ich so, wie ich bin? Und: Wie möchte ich mein Leben, meine Zukunft gestalten? Welche Beschäftigungen, welche Personen und Beziehungen stiften für mich Sinn und Erfüllung? Das sind Fragen, die wir uns alle immer wieder stellen, besonders an Wegmarken und bei Übergängen: in jungen Jahren, wo es um Fragen des Berufs und der Lebensplanung geht, bei einschneidenden Ereignissen, gegen Ende des Lebens. Fragen, die nicht leicht beantwortet werden können, weil immer unterschiedliche Faktoren zusammenspielen: Neben den individuellen, in uns angelegten Wesensmerkmalen hat auch unser soziales Umfeld prägende Wirkung, all die Beziehungen, die wir im Verlauf unseres Lebens pflegen. Hinzu kommen Normen und Sichtweisen, die unsere Gesellschaft bestimmen. All diese Faktoren bieten Chancen für die Gestaltung unsrer Identität, legen uns aber auch Stolpersteine in den Weg. Unsere individuellen Veranlagungen finden nicht immer Anklang im sozialen Umfeld und mögen auch in einem Konflikt stehen zu dem, was die Gesellschaft als richtig empfindet. Das aber macht es oft schwierig, unseren Weg als Individuum zu finden und zu gehen, wie Dario Spini, Politik- und Sozialwissenschaftler an der Uni Lausanne, im Interview mit dem Magazin darlegt (Seite 9). Eine besondere Herausforderung bedeutet dies für Menschen, die zentralen Normen unserer Gesellschaft aufgrund einer Behinderung, ihres Alters oder besonderer sozialer Umstände nicht entsprechen können. Dario Spini, der sich in seinen Forschungen immer wieder mit dem Thema Vulnerabilität beschäftigt, plädiert deshalb dafür, gerade die Vulnerabilität selbst zur Norm zu machen, im Bewusstsein, dass wir alle immer irgendwelchen Anforderungen nicht genügen können. Diese Haltung schafft eine wichtige Voraussetzung, um gerade auch «vulnerablen» Menschen Raum zu geben, ihre Identität zu leben und sie auf Augenhöhe bei der Entwicklung ihrer Lebensentwürfe zu unterstützen. Die verschiedenen Beiträge in unserem Schwerpunkt machen deutlich, welche Bedeutung Beziehungen haben, die die Menschen in ihrer persönlichen Eigenart anerkennen. Zentral ist zudem, sie zu unterstützen, über ihr Leben zu reflektieren, Pläne zu schmieden – und sie damit zu Autorinnen und Autoren ihres Lebens zu machen. Karen Ling, Dozentin von der interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich (Seite 24), bringt dies mit folgenden Worten auf den Punkt: «Für die Identitätsentwicklung braucht es immer Interaktion sowie ein Verständnis der eigenen Lebensgeschichte. Entscheidend ist auch, dass wir selbst etwas bewirken können und unterschiedliche Räume und Rollen haben, in denen wir Anerkennung erfahren.» Neben unseren Schwerpunktbeiträgen empfehle ich Ihnen das Interview mit der neuen Curaviva-Geschäftsführerin Christina Zweifel (Seite 40). Das Gespräch geführt hat meine Kollegin aus der Romandie Anne-Marie Nicole. Neben zentralen politischen Themen kommt denn auch zur Sprache, wie sich die Landesteile gegenseitig inspirieren können. «Wir dürfen uns auf keinen Fall durch Sprachbarrieren einschränken lassen», betont Christina Zweifel. Titelbild: Ein Bewohner des Discherheims in Solothurn befragt das Orakel respektive geniesst ganz einfach den Zauber der Oase. Foto: Discherheim

HF Diplom 3-jährige Vollzeitausbildung Dipl. Aktivierungsfachfrau HF Dipl. Aktivierungsfachmann HF Mehr zum Aufnahmeverfahren unter medi.ch Weiterbildungsangebote für Aktivierungsfachpersonen HF (Ermässigung für SVAT-Mitglieder) Zertifikat FAB Fachperson in aktivierender Betreuung Fachverantwortliche/r in Alltagsgestaltung und Aktivierung Mehr zu den Weiterbildungsangeboten unter medi.ch medi | Zentrum für medizinische Bildung | Aktivierung HF Max-Daetwyler-Platz 2 | 3014 Bern | Tel. 031 537 31 10 | at@medi.ch HÖHERE FACHSCHULE FÜR AKTIVIERUNG AM PULS DER PRAXIS > > AKTIVIERUNG Jetzt spenden! IBAN: CH04 0900 0000 8000 8274 9 «Plötzlich sah ich auf einem Auge nur noch Nebel» Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft unterstützt Menschen, die von MS betroffen sind. Helfen auch Sie: www.multiplesklerose.ch Die Solidaritätsstiftung des SRF Jetzt spenden mit TWINT! Kitzelsandferien habe ich so gern. Dank Ihrer Spende erhalten Menschen mit Behinderungen einen chancengleichen Zugang zu Ferien und Freizeitaktivitäten. Jetzt spenden. denkanmich.ch IBAN CH44 0077 0254 8509 0200 1

Inhalt ARTISET 03 I 2024 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Salomé Zimmermann (sz); Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 3. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Tiefenaustrasse 2, 8640 Rapperswil, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@ fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 0319631111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 03138533 33, E-Mail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8 × deutsch (je 4600 Ex.), 4 × französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2023 (nur deutsch): 3167 Ex. (davon verkauft 2951 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 06 Das Erzählcafé ermöglicht, über die eigene Lebensgeschichte nachzudenken 09 Was der Identitätsbegriff beinhaltet 14 Sonnweid Wetzikon: Menschen mit Demenz dürfen ihre eigenen Normen leben 20 Discherheim Solothurn: Individuelle Erfahrungen machen können 24 Identität gestalten geht auch ohne Sprache 27 Wie das Lebensbuch die Erinnerung von Kindern und Jugendlichen fördert 30 Fürsorgerische Zwangsmassnahmen prägen noch die zweite Generation kurz & knapp 34 Die Praktische Ausbildung ist 15 Jahre alt Aktuell 36 Publikation der Qualitätsindikatoren: Was dies für die Pflegeheime bedeutet 40 Curaviva-Geschäftsführerin Christina Zweifel fördert partizipative Prozesse 44 Datenschutzgesetz: Tipps zur Umsetzung 46 Schritt für Schritt zur Inklusion 49 Ein neues Online-Tool hilft Pflegeheimen bei der Strategieentwicklung 51 Königsweg zur Leitung einer Institution Politische Feder 54 Jacqueline de Quattro, Waadtländer FDP-Nationalrätin 27 40 54

6 ARTISET 03 I 2024 « Menschen wollen die Autoren ihrer Lebensgeschichte sein» Biografisches Erzählen fördert gerade auch im Alter die Aufrechterhaltung der individuellen Identität und die soziale Teilhabe. Foto: Symbolbild / 123FR

ARTISET 03 I 2024 7 Im Fokus Wenn ich nicht für das Magazin Artiset schreibe, moderiere ich Erzählcafés an verschiedenen Orten, für verschiedene Zielgruppen. So zum Beispiel für betagte Menschen im Pflegeheim. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die den Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, über ihre Lebensgeschichte nachzudenken sowie ihre eigenen Ressourcen, die Beziehungen zueinander und ihre persönliche Identität zu stärken. Von Anne-Marie Nicole Eines der ersten Erzählcafés für ältere Menschen, das ich moderieren durfte, fand im Pflegeheim Les Pervenches in Carouge im Kanton Genf statt. Anfang Nachmittag trafen die ersten Teilnehmenden nach und nach gemütlich ein und setzten sich an den grossen Tisch im Aktivierungsraum. Über 20 Personen waren der Einladung gefolgt – weit mehr, als sich Estelle Floret, Leiterin der Aktivierung, erhofft hatte. Noch bevor alle ihren Platz gefunden hatten und ich erklären konnte, was ein Erzählcafé ist und wie es abläuft, fragte mich ein Bewohner: «Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir regelmässig gestellt, wenn ich zum ersten Mal ein Erzählcafé in einem Pflegeheim durchführe. Jedes Mal antworte ich mit einem feinen Lächeln: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen!» Denn diese Gesprächskreise haben den Anspruch, einen wohlwollenden und respektvollen Raum zu schaffen, wo Menschen ihre Geschichte erzählen können und vor allem Gehör finden. Das Erzählcafé in Carouge fand am 14. Juli statt, kurz vor dem 1. August also. Somit lag das Thema des Tages auf der Hand: der Nationalfeiertag. Zu diesem Anlass und um das Eis zu brechen, zeigte ich Bilder mit Bezug zum Nationalfeiertag verschiedener Länder, aus denen die anwesenden Bewohner:innen mehrheitlich stammten. Nachdem sich alle nacheinander vorgestellt und so ein erstes Mal das Wort ergriffen hatten, begann ich, die vorbereiteten Fragen zu stellen. Dabei folgte ich einem chronologischen Ablauf: von der Vergangenheit über die Gegenwart bis zur Zukunft. Wie war es bei Ihnen als Kind? Wie haben Sie den Nationalfeiertag erlebt? Welche Bilder bleiben Ihnen in Erinnerung? Wie ist es heute? Was möchten Sie weitergeben? Zunächst etwas schüchtern, dann immer selbstsicherer und energischer erzählten die Bewohner:innen von ihren Kindheitserinnerungen, von Traditionen, Feuerfreuden, Lampions, kulinarischen Spezialitäten. Manchmal waren sie erstaunt, gleiche Dinge erlebt zu haben, so zum Beispiel, wenn die «kleinen» Geschichten in einen grösseren historischen Kontext gestellt wurden. Gemeinsam lachten sie über Anekdoten, liessen Emotionen aufleben und liessen auch Tränen ihren Lauf, wenn es um schmerzhafte Erinnerungen ging. Gegenseitiges Zuhören und Erzählen Estelle Floret ist von der positiven Wirkung der Erzählcafés überzeugt: «Das ist ein einzigartiger Raum für gegenseitiges Zuhören und Erzählen auf Augenhöhe», fasst sie zusammen. Sie war überrascht, dass sich die Teilnehmenden nicht unterbrachen, und erstaunt, als eine desorientierte und sonst nicht sehr gesprächige Bewohnerin ein Erlebnis genau und zusammenhängend wiedergab. In einem Pflegeheim begegnen sich die Bewohnerinnen und Bewohner jeden Tag. Das bedeute aber nicht zwingend, dass sie sich auch kennen, ausser vielleicht die Tischnachbarinnen und -nachbarn, so die Aktivierungsfachfrau. Die Äusserungen ihrer Kolleginnen aus anderen Heimen gehen in die gleiche Richtung: «Anders als sonst haben sie einander zugehört, ohne sich ins Wort zu fallen», berichtet eine von ihnen. «Sie haben viel erzählt, was nicht immer der Fall ist», ergänzt eine weitere Kollegin. «Das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben, hat sie einander nähergebracht», freut sich eine dritte Fachperson. So ist zum Beispiel zwischen zwei Bewohnerinnen eine neue Freundschaft entstanden. Sie haben entdeckt, dass die eine im Dorf ihrer Schwiegerfamilie geheiratet hatte, einem NETZWERK ERZÄHLCAFE Der Verein Netzwerk Erzählcafé fördert die Entstehung und Etablierung sorgsam moderierter Erzählcafés in der Schweiz. Erzählcafés sind moderierte Erzählrunden zu einem vorgegebenen Thema, bei denen sich die Teilnehmenden auf Augenhöhe über ihre Lebensgeschichte austauschen. Sie bringen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Alter an Orten wie Quartiertreffpunkten, Museen, Bibliotheken oder Cafés zusammen. Das Netzwerk bietet Weiterbildungen, Erzählrunden und Tagungen an. Zudem stellt es eine Agenda, Artikel, Instrumente und eine Liste der Moderatoren und Moderatorinnen zur Verfügung.

8 ARTISET 03 I 2024 abgelegenen Ort im Kanton Luzern, genau dort, wo die andere geboren wurde. Seither grüssen sie sich und trinken gemeinsam Kaffee. Erzählcafés sind Begegnungsräume, die für alle zugänglich sind und wo die Teilnehmenden von ihrem Leben, ihren Erfahrungen und Erinnerungen erzählen. Ausgangspunkt bildet dabei ein vordefiniertes Thema von allgemeinem Interesse. Reisen, das Zuhause, die Nachbar:innen und das Telefon sind nur einige Beispiele. Erzählcafés umfassen zwei Teile: das Erzählen mit einer Dauer von 45 bis 60 Minuten, und das anschliessende Kaffeetrinken in gemütlicher und ungezwungener Atmosphäre mit einem Snack und Raum für weiterführende Gespräche im kleineren Kreis. Ein geschützter Rahmen Die Aufgabe der Moderatorinnen und Moderatoren besteht darin, einen vertrauensvollen und respektvollen Rahmen zu schaffen, das Gespräch zu begleiten und zu steuern. Ausserdem achten sie darauf, dass alle Teilnehmenden zu Wort kommen, wenn sie dies wünschen, und sprechen ihnen bei sensiblen oder emotionalen Reaktionen auf die Erzählungen tröstend zu. Erzählcafés sind keine Diskussionen. Es wird weder beurteilt, noch kommentiert oder unterbrochen. Erzählen ist freiwillig, Zuhören aber Pflicht. Das sind die vorrangigen Regeln eines Erzählcafés. Sie tragen zur Schaffung eines geschützten und respektvollen Rahmens bei. Erzählcafés erfüllen keinen therapeutischen Zweck, auch wenn ihre Wirkung durchaus in diese Richtung gehen kann. Das Erzählen der Lebensgeschichte hat eine verändernde Kraft. Dieser Rückblick bietet die Möglichkeit, die Identität zu stärken, dem Erlebten Sinn zu geben, sich mit seiner Biografie auszusöhnen. Lebensgeschichten finden Resonanz und verstärken das Gefühl von Zugehörigkeit. «Über die individuelle Lebensgeschichte hinaus kommen dabei die politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Bedingungen in der Zeitgeschichte zum Vorschein. Dabei können die Teilnehmenden durch den Rückblick im Kontext der Gruppe Gemeinsamkeiten und Unterschiede entdecken sowie individuelle Erfahrungen besser verstehen, einordnen und neu bewerten», schreibt Johanna Kohn, Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz, in einem Artikel von 2020 mit dem Titel «Wir sind, was wir erzählen». Erzählcafés haben ihren Ursprung in Berlin Ihren Anfang nahmen die als soziokulturelle Interventionen geltenden Erzählcafés gegen Ende der 1980er-Jahre in Berlin – genauer gesagt in Wedding, einem Stadtbezirk, der damals von der berühmten Berliner Mauer durchtrennt war und sich durch eine manchmal explosive soziale Durchmischung auszeichnete, erzählt Johanna Kohn. In Berlin wie auch in Wien entstanden immer mehr solche Gesprächskreise. Sie erlaubten der Bevölkerung, über Erlebtes zu sprechen, persönliche Realitäten zu teilen und die Vergangenheit zu verarbeiten. Während Erzählcafés heute vor allem den Anspruch haben, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Akzeptanz von Diversität zu fördern, war das Anfang der 2000er-Jahre in der Schweiz entwickelte Konzept zunächst für ältere Menschen gedacht. «Biografiearbeit ist eine Hauptaufgabe im Alter. Die Fragen, wer man denn geworden ist, welche Lebensprojekte abgeschlossen werden konnten und welche nicht, wo man erfolgreich, schuldig, klug, mutig oder Opfer war und was man mit der verbleibenden Lebenszeit noch tun möchte, sind existenziell – besonders in Umbruchszeiten», betont Johanna Kohn. Die Professorin, die eine Weiterbildung in der Moderation von Erzählcafés anbietet, gehört auch zu den Ideengeberinnen der Erzählcafés in der Schweiz und des Netzwerks Erzählcafé. «In diesem Prozess der Wiederaneignung ihres Lebens wollen betagte Menschen als Autoren ihrer Lebensgeschichte betrachtet und behandelt werden», so Johanna Kohn weiter. Gut für die Gesundheit Laut einer Gruppe deutscher Forscherinnen in psychosozialer Medizin und Psychotherapie fördert biografisches Erzählen die Aufrechterhaltung der individuellen Identität und die soziale Teilhabe. Im Wesentlichen zum gleichen Schluss kommt eine von der Gesundheitsförderung Schweiz beauftragte Evaluation. In ihrem Bericht vom Dezember 2022 schreiben die Autorinnen und Autoren, «dass die Teilnahme an einem Erzahlcafe einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit von (alteren) Menschen hat». Ausserdem betonen sie: «Diese Art der strukturierten Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie kann Aspekte wie Lebenszufriedenheit, Selbstwert, Selbstwirksamkeit und soziale Zugehorigkeit positiv beeinflussen». Somit ist die Methode Erzählcafé für die Biografiearbeit mit älteren Menschen besonders gut geeignet. Weitere Informationen: ➞ netzwerk-erzaehlcafe.ch Das Erzählen der Lebensgeschichte hat eine verändernde Kraft. Dieser Rückblick bietet die Möglichkeit, die Identität zu stärken, dem Erlebten Sinn zu geben, sich mit seiner Biografie auszusöhnen.

ARTISET 03 I 2024 9 Im Fokus Die Identität einer Person beschränkt sich nicht auf die Informationen in ihren Ausweispapieren. Sie ist komplex, paradox und vielfältig. Sie entwickelt sich über das ganze Leben hinweg. Wichtige Faktoren sind persönliche Ressourcen, das soziale Umfeld und gesellschaftliche Normen. Ein Blick auf das Thema mit Dario Spini, Sozial- und Politikwissenschaftler der Uni Lausanne*. Interview: Anne-Marie Nicole « Wir bestimmen nicht alleine, wer wir sind» Wie würden Sie den Identitätsbegriff definieren? Ich könnte sagen, Identität ist einfach die Antwort auf die Frage «Wer bin ich?». Identität ist aber komplexer und bildet sich bei jeder Person auf spezifische Art und Weise. Identität vereinigt persönliche Eigenschaften, psychische und physische, die sich aus dem autobiografischen Gedächtnis speisen: woher ich komme, wer ich bin, was meine Motivationen sind, meine Tätigkeiten, wie meine Zukunftsvorstellungen aussehen. Gegenstände wie das Auto oder die Kleidung gehören ebenfalls dazu, wenn ich sie als einen Teil von mir betrachte. Auch das spirituelle Selbst spielt eine Rolle: Glaube, Überzeugungen und Werte. Und wie steht es mit der sozialen Komponente der Identität? Für die Bildung der Identität ist das soziale Umfeld eines Individuums wichtig, und zwar über die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb von Personengruppen, sei dies die Familie, die Arbeit, der Sportclub oder auch in einer sozialen Institution. Die Identitätsmerkmale, die eine Person selbst von sich wahrnimmt, so zum Beispiel die Art, sich auszudrücken, das Aussehen oder die berufliche Tätigkeit, nimmt auch die Aussenwelt wahr. Wie wir uns geben und das Bild, das andere von uns haben: Beide Aspekte tragen zur Bildung unserer Identität bei. Wir bestimmen nicht allein, wer wir sind. Viele Aspekte unserer Identität interagieren mit der Identität anderer Menschen. Das führt natürlich auch zu Konflikten. In Fall unterschiedlicher Identitäten kann es zu Konflikten kommen, selbst ohne sich persönlich zu kennen. Aspekte der Identität interagieren dabei auf verschiedenen Ebenen. Das kann im Inneren einer Person selbst sein, aber auch zwischen verschiedenen Personen sowie von einer Person gegenüber einer komplexen, in sich widersprüchlichen Welt. Auch in sozialen Institutionen treffen unterschiedliche Identitäten aufeinander und können zu Konflikten führen. Jeder soziale Ort ermöglicht Chancen, legt aber auch Hindernisse in den Weg. Bei einem Leben innerhalb einer Gemeinschaft ist es nicht immer möglich, die eigene Identität auszudrücken. Jede Person muss sich diesem Umfeld anpassen. Der Identitätsbegriff ist paradox, umfasst Unterscheidung und Anpassung gleichermassen. Es geht darum, wie man sich gegenüber anderen positionieren will. Identität schliesst immer beides ein, sich mit etwas oder mit anderen zu identifizieren, aber auch sich von etwas oder von anderen zu unterscheiden. Das was uns mit anderen verbindet, ermöglicht es uns, mit andern zusammenzuarbeiten, uns gegenseitig zu unterstützen. Und das, was uns von anderen unterscheidet, ist sicherlich eine Bereicherung, führt aber manchmal auch zu Schwierigkeiten. Individuen bewegen sich also stets zwischen dem, was sie einzigartig macht, und dem, was sie mit anderen verbindet? Genau, wobei es hier grosse Unterschiede im Verlauf der Geschichte gibt. Es gab Zeiten, in denen die Familie, der Clan, die Religion über dem

10 ARTISET 03 I 2024 einzelnen Individuum standen. Die Stellung des Individuums im Kollektiv variiert in der Geschichte sehr stark. Heute bildet die Einzigartigkeit des Individuums die Norm. Wir leben in einer sehr individualistischen Gesellschaft. Jeder Mensch schafft sich seine eigene Geschichte, seinen «persönlichen Mythos», indem er sich mit einer übertriebenen Darstellung des eigenen Selbstbildes und der eigenen Identität in den sozialen Medien in Szene setzt. Wie beeinflusst diese Norm, einzigartig sein zu müssen, die Identitätsbildung? Einzigartig oder auch autonom sein zu müssen, vermittelt die Vorstellung, dass alle, die nicht autonom sind – dazu gehören Menschen mit Behinderung und betagte Personen –, verletzlich oder abhängig sind. Und in der Schweiz leben viele Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen und sich deshalb minderwertig oder sogar diskriminiert fühlen. Im Rahmen unserer Arbeiten mit dem Forschungszentrum LIVES haben wir beschlossen, den Spiess umzudrehen und die Vulnerabilität als Norm zu definieren. Wir alle sind verletzlich, einfach in unterschiedlichen Ausmass. Diese Selbsterkenntnis erlaubt es, allen Personen dabei zu helfen, ihrer Situation entsprechend möglichst viel Autonomie zu erlangen. Seit diesem Perspektivenwechsel hat sich mein Leben verändert. Eine solche Umkehr der Normen ist tatsächlich sehr entlastend und zudem führt es dazu, dass wir hilfsbereiter werden… Genau. Schon in der Schule hören wir ständig «sei selbstständig!». Was wir hingegen weniger lernen, ist, jenen zu helfen, die Schwierigkeiten haben, oder dass wir selbst um Hilfe bitten können, wenn es für uns einmal gerade schwierig ist. Der Wettkampf ist wichtiger als die Zusammenarbeit. Bereits als Kind stehen wir im Wettbewerb zu anderen und müssen beweisen, dass wir uns zu einem selbstständigen Individuum entwickeln. Das ist sicher richtig, aber nicht ausreichend. Nicht alle werden dies auf die gleiche Art und Weise schaffen. Menschen haben unterschiedliche Vulnerabilitäten, die mit ihrer Geschichte oder ihrer Genetik zusammenhängen und sind nicht zwingend dafür verantwortlich, was ihnen widerfährt. Wie kann sich die Identität bei vulnerablen Personen (neu) bilden? Nehmen wir als Beispiel die Behinderung. Grundsätzlich werden zwei Situationen unterschieden: angeborene und später eingetretene Behinderungen. Letztere haben einen Identitätsbruch zur Folge, und Betroffene müssen ihre Identität neu aufbauen. Die Dynamik unterscheidet sich in diesen beiden Situationen. Auch die Ressourcen, über die Betroffene verfügen, um möglichst ihren Wünschen entsprechend zu leben, sind nicht dieselben. Die Zukunft gestaltet sich ganz anders, wenn ein Mensch von Grund auf – selbst mit Einschränkungen – eine Identität aufbauen kann, als wenn er zum Beispiel nach einem Unfall eine neue Geschichte und Identität erschaffen muss. Um Identität leben und gestalten zu können, sind persönliche Ressourcen erforderlich. Welche können Sie hier konkret benennen? Es gibt unterschiedliche Arten von Ressourcen. So etwa persönliche Ressourcen, die ein Individuum auf seinem bisherigen Lebensweg erworben hat und die eng mit seiner Persönlichkeit und seinen Fähigkeiten verknüpft sind. Dario Spini: «Wir haben beschlossen, den Spiess umzudrehen und die Vulnerabilität als Norm zu definieren. Letztlich sind wir alle vulnerabel, einfach auf unterschiedliche Art und Weise.» Foto: zvg

ARTISET 03 I 2024 11 Anzeige Ich höre, also lese ich. Lesen, ohne das Buch zu sehen: Unsere Medien bieten Sehbehinderten einen Zugang zur Weltliteratur. Helfen auch Sie, Literatur für alle hörbar zu machen! SPENDENKONTO CH74 0900 0000 8000 1514 1 SPENDEN MIT TWINT Im Fokus Zudem gibt es Ressourcen, die sich aus dem Umfeld speisen: So stehen isoliert lebenden Menschen weniger Ressourcen zur Verfügung als solchen, die verschiedenen sozialen Gruppen angehören, mit denen sie sich identifizieren und an denen sie sich orientieren können. Sozial sehr aktive Menschen sind auch in der Lage, sich neue Ressourcen zu erschliessen, sich neu zu orientieren und Zukunftspläne zu entwickeln. Ist die Identität von sogenannt vulnerablen Personen zwingend verletzlich und instabil? Nein. Die Identität kann sich wirklich auf ganz viele verschiedene Arten ausdrücken und bilden. Manche Personen finden Nischen, wo sie sich entfalten können. So zum Beispiel im Sport für Menschen mit Behinderung. Bei der Identität geht es auch um die Art und Weise, wie man sich in der Welt verortet. Und das ist nicht immer einfach, selbst für Menschen, die in unserer Gesellschaft nicht als verletzlich gelten. Es ist schwierig, so zu leben, wie man das selbst wirklich will, und nicht einfach so, wie das soziale Umfeld dies einfordert. In einem Umfeld, in einer Gesellschaft, die offen ist gegenüber anderen Lebensentwürfen und Lebensmöglichkeiten, wo Menschen weder stigmatisiert noch diskriminiert werden, ist es auch einfacher, seine Vulnerabilität oder Behinderung zu akzeptieren. Vulnerabilität ruft oft negative Vorstellungen hervor. Begünstigt dies die Abschottung von anderen? Menschen, die diskriminiert werden, weil sie nicht einem bestimmten Gesellschaftsmodell entsprechen, schliessen sich oft zusammen. So finden sie Solidarität und erhalten mehr Gewicht gegenüber jenen, die sie diskriminieren. Das ist der Grund für die Entstehung von sozialen Bewegungen. In solchen Bewegungen entsteht eine kollektive Identität von Menschen, die in der gleichen Situation sind. Der Zusammenschluss in solchen Bewegungen ermöglicht es dann, sich gegenüber der Gesellschaft, in der sie aufgrund ihrer Verhaltensweisen oder Überzeugungen marginalisiert werden, besser verteidigen können. Mittels ihrer Präsenz im öffentlichen Raum machen sie auf sich aufmerksam. Sprechen Sie hier auf die «Mad Pride»-Bewegung an? Diese ist ja in Anlehnung an die «Gay Pride»-­ Bewegung entstanden. Sich mit anderen Menschen, die sich durch eine gemeinsame Identität miteinander verbunden fühlen, im öffentlichen Raum zu bewegen, hat zum Ziel, die Gesellschaft für eine Problematik zu sensibilisieren. Die Gruppe bietet Sichtbarkeit. Eine Einzelperson hat viel mehr Mühe, sich Gehör zu verschaffen. Mittels solcher sozialer Bewegungen sind in den letzten Jahren wichtige gesellschaftspolitische Themen in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten, insbesondere rund um Genderfragen. «Einzigartig oder auch autonom sein zu müssen, vermittelt die Vorstellung, dass alle, die nicht autonom sind – dazu gehören Menschen mit Behinderung und betagte Personen –, verletzlich oder abhängig sind.» Dario Spini

12 ARTISET 03 I 2024 Interprofessionelles Team mit hohem Qualitätsstandard Bei Emeda arbeitet ein Team aus Fachärzten, Geriatern, Pflegeexperten, medizinischem Assistenzpersonal, Apothekern und APN (Advanced Practice Nurse), das interprofessionell mit dem Pflegepersonal in Alters- und Pflegeheimen agiert. Das heisst: Eine Ärztin oder ein Arzt kommt gemeinsam mit einer medizinischen Assistenz regelmässig bei der Institution zur Visite vorbei, wobei der Arzt dem Heim fest zugeordnet ist. So unterstützt Emeda die Heime dabei, die ärztliche Versorgung sicherzustellen. Aber die Dienstleistungen von Emeda gehen noch weiter: Dank einem Netzwerk von rund 370 Apotheken profitieren die Institutionen auch von einer umfassenden pharmazeutischen Betreuung, inklusive Medikamentenlieferung und Verblisterung. Es versteht sich von selbst, dass hohe Qualitätsstandards bei einem solchen Angebot von zentraler Bedeutung sind. Emeda konnte sich als erste mobile Heimarztpraxis der Schweiz von EQUAM zertifizieren lassen. Zudem ist die Praxis eine vom SIWF anerkannte Weiterbildungsstätte für den ärztlichen Nachwuchs im Bereich Geriatrie. Ganzheitliche Betreuung: 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr Das Emeda-Team folgt einem ganzheitlichen Ansatz, der nicht nur akute Gesundheitsprobleme im Blick hat, sondern auch präventive Massnahmen PUBLIREPORTAGE In der Schweiz steht die Gesundheitsversorgung vor immer neuen Herausforderungen, insbesondere bei der Pflege und Betreuung älterer Menschen. Aufgrund des Ärztemangels haben viele Alters- und Pflegeheime Schwierigkeiten, die ärztliche Versorgung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner sicherzustellen. Das Konzept von Emeda bietet eine wegweisende Antwort auf diese Herausforderungen. bietet. Durch regelmässige Besuche können Veränderungen im Gesundheitszustand frühzeitig erkannt und entsprechende Massnahmen ergriffen werden. So hilft Emeda, ernsthafte Erkrankungen zu verhindern oder in einem frühen Stadium zu behandeln, was die Lebensqualität der Bewohnenden verbessert. Zudem steht den Alters- und Pflegeheimen ein telefonischer ärztlicher Hintergrunddienst zur Verfügung, der das ganze Jahr über 24 Stunden am Tag erreichbar ist. Effizient, ressourcenoptimiert und persönlich Ein wichtiger Punkt im Kampf gegen den Fachkräftemangel ist die Optimierung von Ressourcen. Hier spielt das Team von Emeda eine tragende Rolle: Indem an einem Ort mehrere Patientinnen und Patienten besucht werden, kann das Arztpersonal seine Zeit effizienter nutzen, ohne dass die Qualität der Betreuung darunter leidet. Das Pflegepersonal wird entlastet. Die Visiten an einem fixen Tag erleichtern und steigern die Prozessabläufe in den Alters- und Pflegeheimen und die feste personelle Zuordnung zu einer Institution erhöht die persönliche Bindung zwischen Bewohnenden, medizinischem Personal und dem Pflegepersonal. Technologische Integration Aber nicht nur die Optimierung der Ressourcen wirkt dem Fachkräftemangel entgegen: Auch die Integration moEmeda – die mobilen Heimärzte in Alters- und Pflegeheimen: Ein Blick in die Zukunft der Gesundheitsversorgung emeda.ch Emeda AG, Zürichstrasse 38, 8306 Brüttisellen, T 044 655 12 34, info@emeda.ch derner Technologien ist unabdingbar, um effizienter zu arbeiten und trotzdem genug Zeit für die Patientinnen und Patienten zu haben. Emeda dokumentiert während der Visite alle Daten in einer elektronischen Patientenakte. Nebst dem Zeitgewinn bei der Erfassung wird so auch ein nahtloser Austausch zwischen allen beteiligten Fachpersonen ermöglicht. Gemeinsam mit anderen Playern im Gesundheitsmarkt investiert Emeda Ressourcen in die stetige Weiterentwicklung von Technologien, um die digitalen Prozesse im Gesundheitswesen, z. B. bei der elektronischen Bestellung von Medikamenten, weiter voranzutreiben. Pionierarbeit für das Gesundheitswesen Emeda leistet Pionierarbeit. Im Jahr 2024 wird im Rahmen eines Pilotprojekts erstmals eine APN gemeinsam mit einem Arzt auf Visite gehen, unterstützt durch telemedizinische Anwendungen. Es ist davon auszugehen, dass dieser innovative Ansatz einen wegweisenden Einfluss auf die Zukunft der Gesundheitsversorgungen haben wird.

ARTISET 03 I 2024 13 Lüftungsreinigung ...alles hygienisch? 0848 852 856 info@rohrmax.ch Lüftung Kostenlose Kontrolle FunktionsRohre+Geräte Alle Marken Wann was reinigen? Übersicht auf rohrmax.ch Anzeige Führt die Marginalisierung durch die Gesellschaft aufseiten von Menschen mit Behinderung zu einer auf die Beeinträchtigung eingeschränkten Selbstsicht? Nein, denn Menschen besitzen die grossartige Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, sich etwas vorzustellen, Zukunftspläne zu entwickeln und dabei gleichzeitig einen Bezug zu ihrer Realität herzustellen. Diese narrative Identität, die Art, sich selbst und anderen etwas zu erzählen, verleiht dem Leben Kohärenz und Sinn. Und dieser Sinn kann in jeder Situation gefunden werden. Es gibt auch Menschen, die sich für ein zurückgezogenes Leben entscheiden, um sich den Blicken der anderen zu entziehen, einem System zu entfliehen, in dem sie leiden könnten, und die sich so eine ganz andere Identität aufbauen. Auch hier kommt es darauf an, welche Ressourcen einer Person zur Verfügung stehen und welchen persönlichen und materiellen Einschränkungen sie unterliegt. Menschen erleben im Verlauf ihres Lebens kritische Ereignisse, Übergänge, Brüche. Welchen Einfluss hat dies auf die Identität? Sie müssen nicht zwingend einen Einfluss haben. Gewisse Übergänge, wie jener von der Schule ins Berufsleben, gehören zur biografischen Kontinuität. Manchmal kommt es aber auch zu unerwarteten Ereignissen, die einen Bruch im bisherigen Lebensweg markieren und das Gleichgewicht stören, so zum Beispiel eine Krankheit, ein Unfall, ein Todesfall oder eine Trennung. In der Folge muss die Identität auf eine neue Grundlage gestellt werden. Dazu greifen Personen im Umfeld, in den alltäglichen Dingen und in ihrem Gedächtnis auf Elemente zurück, welche die Kohärenz in ihrem Leben stärken. Mit dem Alter verändert sich der berufliche und soziale Status einer Person ebenso wie ihre körperlichen und kognitiven Fähigkeiten. Bedeutet das gleichzeitig auch einen Identitätsverlust? In Bezug auf den Übertritt in den Ruhestand zeigen Studien eher eine Form der Befreiung: Wieder mehr Zeit haben, auch wenn junge Rentnerinnen und Rentner einen vollen Terminkalender haben. Dass die Pensionierung zwangsläufig mit einem Identitätsverlust einhergeht, ist nicht belegt. Vor allem bei Männern, die ihr ganzes Leben auf die Arbeit ausgerichtet haben, kann dies aber durchaus der Fall sein. Bei den Frauen in der Schweiz trifft dies im Allgemeinen aber nicht zu. Zudem handelt es sich hier um ein Modell, das die jüngeren Generationen infrage stellen. Hat jemand seine ganze Zeit und Kraft vor allem in die Arbeit investiert, fehlen Ressourcen, die man in anderen sozialen Gruppen oder Tätigkeitsfeldern hätte finden können. Dies zeigt, dass man in Bezug auf die Identität vielleicht nicht alles auf eine Karte setzen sollte. Bei älteren Menschen, die in einem Pflegeheim leben, spricht man oft von einem Identitätsverlust aufgrund des dominierenden Kollektivs. Eine wesentliche Rolle spielt hier auch die veränderte Wohnsituation. Ein Heimeintritt, vor allem, wenn er nicht gewollt war, markiert einen Bruch in der Biografie und führt dazu, dass sich die Bewohnenden ihre Zukunft nicht mehr vorstellen können, ausser sie verfügen über Ressourcen aus der Vergangenheit oder in ihrem Umfeld. Eine Studie hat gezeigt, dass ganz besonders die Identität der betagten Menschen als Eltern offensichtlich sehr lange intakt bleibt und gerade auch im Alters- oder Pflegeheim fortbesteht. So bestätigen Neunzigjährige, dass sie für ihre Kinder leben. Man vergisst, dass all diese Menschen im Alters- und Pflegeheim nicht immer abhängig und verletzlich waren. Was ist zu tun? In Alters- und Pflegeheimen findet in der Regel ein Eintrittsgespräch statt, in dem es ganz besonders auch um die Lebensgeschichte der Bewohnenden geht. Die Frage ist, was man danach damit macht. Oft weiss man nicht, wer die Person ist, wo sie herkommt, wie ihre Vergangenheit aussieht. Der institutionelle Kontext fördert die Kontinuität des Lebenswegs nicht immer. Viele Beispiele zeigen, wie wichtig die Geschichte eines Menschen ist, um sein Verhalten zu verstehen und zu wissen, wie man ihn begleiten kann. * Dario Spini ist Sozialpsychologe und ordentlicher Professor an der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften der Universität Lausanne. Zudem ist er Professor am interdisziplinären Forschungszentrum für Lebensverläufe und Verletzbarkeit LIVES. Seine Forschungsarbeiten befassen sich hauptsächlich mit Vulnerabilität sowie Prozessen und Ressourcen zur Bewältigung von Ereignissen und Übergängen im Verlauf des Lebens. Im Fokus

14 ARTISET 03 I 2024 Den Menschen so sein lassen, wie er ist Die Sonnweid, ein auf Menschen mit Demenz spezialisiertes Pflegeheim in Wetzikon ZH, ist ein Kosmos für sich. Zur Aussenwelt sind die Türen geschlossen. Im Innern ist der Freiraum umso grösser. Die Menschen dürfen ihre Eigenart leben. Und: Die Art und Weise, wie die Pflegenden mit ihnen unterwegs sind, mit ihnen in Beziehung treten, ermöglicht das Erleben von Identität. Von Elisabeth Seifert Eine Welt für sich: Das Pflegeheim Sonnweid in Wetzikon ermöglicht Menschen mit Demenz in den sechs miteinander verbundenen Gebäuden und innerhalb der grossen Gartenanlage viel Bewegungsfreiraum. Foto: Sonnweid

ARTISET 03 I 2024 15 Im Fokus geschlossen. Im Inneren ist der Freiraum, die Freiheit, dafür umso grösser. «Wir lassen jeden Menschen so sein, wie er ist,» benennt Gerd Kehrein, der Leiter Bildung, ein wichtiges Prinzip im Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Und dieses schliesse auch ein, dass die Menschen «das tun können, was für sie sinnvoll ist.» Das muss aber überhaupt nicht dem entsprechen, was wir gemäss unseren landläufigen Vorstellungen und Normen als sinnvoll empfinden. «Wir haben eine völlig andere Normalität bei uns im Haus», unterstreicht denn auch Doreen Prüher. So werde etwa das Umherlaufen nicht als ziel- oder sinnlos betrachtet, die Menschen werden vielmehr dabei unterstützt, ihren Bewegungsdrang leben zu können. «Die Türen sind nicht geschlossen, alle können sich innerhalb des Gebäudekomplexes und im Garten frei bewegen», betont Prüher. In der Nacht ist einzig der Zugang zum Garten zu. Offen sind gerade auch die Türen zu Stationen und Wohngruppen. «Alle sind überall willkommen.» Und während sie über die Flure laufen, können sie sich an den überall verteilten Essensstationen bedienen. Öfter kommt es vor, dass sich jemand in das Bett eines anderen legt oder auf dem Sofa in einer anderen Wohngruppe übernachtet. Zudem kann es schon mal sein, dass ein Bewohner auf dem Fussboden schläft, wo er oder sie dann vom Personal zugedeckt wird. Mit «In der Demenz wird die Norm zur Un-Norm, wobei Un-Norm mit Chaos gleichgesetzt werden kann», benennt Gerd Kehrein einen langjährigen Leitgedanken der Sonnweid, um dann – bewusst provokativ – zu schlussfolgern: «In der Sonnweid wird das Chaos zur Norm.» Für Angehörige oder Besucher kann das gewöhnungsbedürftig sein. Zum Beispiel, wenn jemand am Tisch aus dem Glas seiner Nachbarin trinkt oder das Unterhemd über dem Pullover trägt. Oder wenn eine Bewohnerin aus einer Rabatte im Garten Pflanzen herauszieht, um diese anderswo wieder einzusetzen, oder wenn es für jemanden Sinn macht, das Badezimmer umzubauen. «Zu einem freien, selbstbestimmten Leben gehört, dass die Menschen bei uns weitgehend selbst entscheiden, was sie tun möchten oder auch nicht tun möchten», unterstreicht Prüher – und fügt bei: «Wir versuchen einen Menschen mit Demenz nicht mit seinen Defiziten zu konfrontieren. Er oder sie ist nicht falsch, wir nehmen an, was ist, und das ist richtig so.» In Beziehung sein Diese Haltung, Menschen mit Demenz in ihrem Anderssein anzunehmen, lasse diese zur Ruhe kommen, beobachtet Doreen Prüher. Mit «annehmen» meint sie, dass die Mitarbeitenden die Menschen nicht einfach nur Ein kleiner Wasserfall purzelt über dunklen Stein – mitten im Gebäude vom zweiten Stock ins Erdgeschoss. Man fühlt sich fast wie auf einem Wanderweg, wenn man das Rauschen des Wassers und die liebevoll mit Pflanzen und Holzelementen gestalteten Biotope von der die Stockwerke verbindenden Rampe aus auf sich wirken lässt. Mehrere Nischen laden ein, innezuhalten und sich auszuruhen. «Vielleicht erinnert sich jemand an Ferien in den Bergen», sagt Pflegedienstleiterin Doreen Prüher. «Vor allem aber möchten wir unseren Bewohnerinnen und Bewohnern, auch den Mitarbeitenden, ein angenehmes Gefühl vermitteln.» Wir befinden uns mitten in der Sonnweid-Welt, in einem der sechs weitläufigen, miteinander verbundenen Gebäude, dem Zuhause von 174 Menschen mit mittlerer bis schwerer Demenz. Sie wohnen und bewegen sich in grosszügigen, lichtdurchfluteten Räumen, an den Wänden hängen Bilder und Fotos. Die unterschiedlichen Farben von Gängen und Wänden setzen wohnliche Akzente und schaffen Orientierung. Von allen Bereichen aus gibt es Zugänge zur weitläufigen Gartenanlage mit verschlungenen Wegen und Winkeln. Es lässt sich erahnen, dass die Bewohnenden hier, vom Frühling bis in den Herbst hinein, so manchen Wohlfühlmoment geniessen können. Eine völlig andere Normalität Die Sonnweid-Welt, am Rand von Wetzikon im Kanton Zürich, ist ein Kosmos für sich. Zur Aussenwelt sind die Türen

16 ARTISET 03 I 2024 Bei uns finden Sie das passende Personal! sozjobs.ch Der Stellenmarkt für Sozial- und Gesundheitsberufe Sozjobs_Inserat_2022_Curaviva_halbseitig_180x130.indd 2 22.06.22 16:37 Anzeige Lebensqualität, das Erleben von Identität und Individualität «sind aber die Menschen, die mit mir unterwegs sind und wie sie dies tun». Doreen Prüher macht immer wieder die Erfahrung, dass es für Menschen mit Demenz schon nur beruhigend ist, wenn man bei ihnen ist, gerade wenn sie traurig sind, «die Menschen wollen gedrückt und in den Arm genommen werden». gewähren lassen, sondern auf sie eingehen. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen spüren und wissen, dass sie so, wie sie sind, richtig sind. «Sie erhalten überall Ansprache und werden jederzeit wahrgenommen,» so die Pflegedienstleiterin. Sie werden zum Beispiel immer gegrüsst, wenn sie durch die Flure laufen. Prüher: «Ich halte oft auch einen Moment inne, um herauszufinden, wie es ihnen geht und ob sie von uns etwas brauchen.» Und wenn sich bei jemandem eine besondere Unruhe zeigt, dann machen die Mitarbeitenden gemeinsam mit diesem Menschen eine Runde durchs Haus. «Dadurch treten wir mit ihnen in Beziehung», sagt sie und betont: «In Beziehung zu sein, ist unser wichtigstes Medikament.» Ganz ähnlich bezeichnet Gerd Kehrein die «Beziehungsarbeit» als das wesentliche Element in der Haltung gegenüber Menschen mit Demenz. Kein Mensch schliesslich sei zum Alleinsein geboren. «Um Identität zu erleben, braucht es ein Gegenüber», sagt Kehrein in Anlehnung an den berühmten Satz von Religionsphilosoph Martin Buber: «Der Mensch wird am Du zum Ich.» Auch mit Aktivitäten und Beschäftigungen lasse sich Identität stiften, so Kehrein, das Wichtigste für die «Wir versuchen einen Menschen mit Demenz nicht mit seinen Defiziten zu konfrontieren. Er oder sie ist nicht falsch, wir nehmen an, was ist, und das ist richtig so.» Doreen Prüher, Leiterin Pflegedienst

ARTISET 03 I 2024 17 Im Hier und Jetzt Dieses mit den Menschen «in Beziehung sein» respektive immer wieder «in Beziehung treten» und zu sehen, wie sich das positiv auf diese auswirkt, sei gerade auch für Mitarbeitende erfüllend und befriedigend, sagt Doreen Prüher. Das Erlernen dieser Haltung bezeichnet sie aber auch als Lebensschule: «Wir sind gefordert, im Hier und Jetzt zu sein und uns ganz auf das Gegenüber einzulassen.» Menschen mit Demenz geben einem sofort zu spüren, weiss Prüher, wenn eine Mitarbeiterin mit den Gedanken ganz woanders ist und nebenbei schnell noch die Pflege erledigen will. «Schnell geht meistens nicht, weil der Bewohner oder die Bewohnerin gerade ganz andere Absichten verfolgt.» Die Arbeit für Menschen mit Demenz erfordere eine gewisse Langsamkeit, trage zur Entschleunigung bei. Es braucht Zeit, Empathie und viel Beobachtung, um die Bedürfnisse von Menschen zu erkennen, die ihre Wünsche kaum mehr verbal zum Ausdruck bringen können. Wichtig ist für Kehrein und Prüher zu betonen, dass die Sonnweid nicht auf mehr Mitarbeitende zählen kann als andere Pflegeheime auch. Von Bedeutung sei vielmehr die Erfahrung, so Prüher, und, wie Gerd Kehrein beifügt, die in der Sonnweid gepflegte und geschulte Haltung. Neben einer klaren Haltung muss die Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz mit der Einsicht verbunden sein, so Kehrein, dass diese im Hier und Jetzt leben. Das Gestern und Morgen ist für sie nicht mehr von Bedeutung. Dieses Wissen beeinflusst gerade auch den Umgang mit der Biografie der Menschen. Auch in der Sonnweid wird – wie in vielen gerade auf Demenz spezialisierten Heimen – eine auf die Biografie bezogene Begleitung und Betreuung gepflegt. Der Mensch trägt seine Biografie in sich «Wir versuchen in der Pflege und Betreuung das umzusetzen, was wir im Moment sehen», hält Doreen Prüher fest. «Die Menschen zeigen uns, was für sie wichtig ist, und wir passen uns dieser Situation in der Pflege an.» Das Verhalten und die Emotionen, die ein Mensch äussert, sind dabei immer auch von seiner Biografie geprägt, «der Mensch trägt seine Biografie in sich», wie es Prüher formuliert. Es kann zum Beispiel sein, dass jemand auf eine bestimmte Mitarbeiterin negativ reagiert, ohne dass wir uns dies erklären können. «In einem solchen Fall versuchen wir in der Biografie Antworten zu finden und fragen bei den Angehörigen nach.» Womöglich wird der Bewohner durch die Mitarbeiterin an eine bestimmte Person erinnert. Oder jemand verweigert plötzlich den Kaffee zum Frühstück: Aus dem Gespräch mit den Angehörigen wird dann deutlich, dass die Bewohnerin früher viel Tee getrunken hat. Bei der Arbeit mit der Biografie gehe man in der Sonnweid, wie Prüher und Kehrein betonen, aber immer von der Wahrnehmung im Hier und Jetzt aus. Es mache wenig Sinn, bei Vorlieben und Abneigungen eines Menschen vor allem auf bestimmte Angaben von Angehörigen zu vertrauen, die möglicherweise gar nicht – mehr – der aktuellen Lebensrealität entsprechen. Kehrein: «Wir erleben häufig, dass Angehörige Möbel und Bilder von zu Hause mitbringen, die eine Person in den letzten Jahren immer sehr geliebt hat, diese für sie aber dann plötzlich völlig fremd sind, weil sie in ihrem Selbstverständnis 25 Jahre früher lebt.» «Wir wissen nicht, an welchem Zeitpunkt ihres Lebens die Menschen für sich jetzt stehen», sagt Kehrein, der sich eingehend mit dem Thema Biografiearbeit beschäftigt hat. Er vergleicht unser Leben mit einem Bücherregal, wo die einzelnen Bücher, chronologisch geordnet, von Monat zu Monat unsere Geschichte erzählen. Mit dem Beginn der Demenz beginnen diese Bücher aus dem Regal zu fallen. Zudem verändern sich Menschen mit der Demenz und entwickeln neue Vorlieben oder Abneigungen. So wird jemand womöglich zu einem Langschläfer, obwohl er zeit seines Lebens ein Frühaufsteher war. Oder eine Hausfrau, die immer leidenschaftlich gern gekocht hat, will vom Kochen nichts mehr wissen. Schöne Gefühle, positive Erinnerungen «Wir konzentrieren uns darauf, den Moment für die Menschen schön und angenehm zu gestalten», sagt Doreen Prüher. Neben der zu Beginn erwähnten Gestaltung der Innen- und Aussenräume gehören bestimmte Aromen und Düfte dazu, die guttun und positive Erinnerungen wecken. Auch Musik und die Gemeinschaft mit Tieren tragen zu einem Wohlgefühl bei. «In unserem Angebot ist vieles integriert, das womöglich einen Bezug zur Biografie hat, wir gehen aber nicht so weit, jemanden zu einer Aktivität zu drängen, welche heute für ihn nicht mehr von Bedeutung ist. Die Menschen sollen so sein, wie sie sind und das tun, was sie gerade mögen. «Auch mit Aktivitäten und Beschäftigungen lässt sich Identität stiften, das Wichtigste aber sind die Menschen, die mit mir unterwegs sind, und wie sie dies tun.» Gerd Kehrein, Leiter Bildung Im Fokus

18 ARTISET 03 I 2024 Die Zukunft ist offen. Wir bereiten Sie darauf vor! Weil erstklassige Bildung wirkt. artisetbildung.ch

ARTISET 03 I 2024 19 ARTISET Bildung ist kompetente Dienstleisterin für umfassende Bildung im Gesundheits- und Sozialbereich. Kompetenzorientiert, vielfältig, bedarfsorientiert – wir bieten wertvolle Impulse für Fach- und Führungspersonen zur Professionalisierung der eigenen Arbeit und ermöglichen damit fachliche und persönliche Weiterentwicklung mit vielfältigen beruflichen Perspektiven. Führung und Management • Führungslehrgänge Team-, Bereichs-, Institutionsleitung (Vorbereitungslehrgänge eidg. Prüfungen) • Grundlagen der Führung und Kommunikation • Human Resources /Betriebswirtschaftslehre /Recht Sozialpädagogik • Basiskurs für Quereinsteigende in die agogische Arbeit • Betreuung und Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigung • Lehrgang Kunstagogik • Lebensqualität Kindheitspädagogik • Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung • Lehrgang Klassenassistenz • Heilpädagogik • Basiskurs für Quereinsteigende in die familienergänzende Betreuung Pflege und Betreuung • Lehrgang Langzeitpflege und -betreuung (Vorbereitungslehrgang eidg. Berufsprüfung) • Gerontopsychiatrie • Palliative Care • Lehrgang Gerontologie Gastronomie und Hauswirtschaft • Lehrgang Koch/Köchin in sozialen Institutionen • Lehrgang Führen in der Hotellerie-Hauswirtschaft • Theorie und Praxis: Ernährung für Menschen mit Unterstützungsbedarf • Praktische Hauswirtschaft Als Mitglied von CURAVIVA, INSOS und YOUVITA profitieren Sie von reduzierten Kurspreisen. Gerne erarbeiten wir für Sie und mit Ihnen auch massgeschneiderte Inhouse-Weiterbildungen in Ihrem Betrieb. Nehmen Sie mit uns Kontakt auf! wb@artisetbildung.ch, T +41 41 419 01 72

20 ARTISET 03 I 2024 Neue Wege zum Ich Sich mitteilen, sich einbringen: Im Discherheim gelangen verschiedenste Hilfsmittel bei der Kommunikation zum Einsatz. Foto: Discherheim

ARTISET 03 I 2024 21 Im Fokus Im Discherheim stehen die Zeichen auf Veränderung: begleiten statt betreuen, individuell statt uniform, experimentieren statt stagnieren heisst die Stossrichtung. Doch was bedeutet das Bekenntnis zu mehr Individualität und einer auf die Klientinnen und Klienten abgestimmten Begleitung im täglichen Zusammenleben? Wie schnell gelingt Veränderung, und wo stösst sie an Grenzen? Ein Besuch vor Ort. Von Tanja Aebli Die Stimmung ist ausgelassen im Hauptgebäude des Discherheims, einer Institution unweit der Stadt Solothurn. Hier gehen 82 Personen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung ein und aus, die meisten wohnen und arbeiten im dreistöckigen Komplex aus dem Jahr 2009. Einige der Klientinnen und Klienten beobachten interessiert das Geschehen hinter der gläsernen Eingangstür, andere unterhalten sich, lachen, gestikulieren, spazieren durch die Gänge oder halten vor den Vitrinen inne, in denen die Produkte aus den Ateliers präsentiert werden. Schnell wird klar: Die Spannbreite ist gross, was Alter, Schweregrad der Beeinträchtigung wie auch individuelle Bedürfnisse und Ressourcen anbelangt. Welche Bedeutung hat die Frage nach der Identität für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind? Ist sie lediglich ein theoretisches Konstrukt, oder gibt es Methoden und Ansätze, um dem Ergründen der eigenen Persönlichkeit im Alltag einer Institution mehr Raum und Gewicht zu geben? «Die Frage der Identität ist eng mit der Frage der eigenen Haltung verwoben», sagt Stephan Oberli, Gesamtleiter des Discherheims. «Unsere Haltung ist klar: Wir als Institution stehen in der Pflicht, unsere Angebote so rasch wie möglich in Einklang mit der UNO Behindertenrechtskonvention zu bringen. Hierfür müssen wir alle – 190 Mitarbeitende und die gesamte Führungscrew – am gleichen Strick ziehen.» Umdenken auf sämtlichen Ebenen Zwar hat das Discherheim im Leitbild, in der Strategie und im neuen AgogikKonzept Prinzipien wie Selbstbestimmung, Autonomie, Inklusion und Partizipation verankert, doch der Transfer der UN BRK Vorgaben in die Praxis ist noch lange nicht zu Ende. Stephan Oberli spricht von einem laufenden Prozess und einem neuen «Mindset», das sich auf allen Ebenen etablieren muss – weg vom Betreuen hin zum Befähigen, weg von althergebrachten hin zu ungewohnten, mitunter unkonventionellen Angeboten. «Es geht darum, Türen zu öffnen und Möglichkeiten zu schaffen, damit unsere Klientinnen und Klienten herausfinden, wer sie sind, was ihnen wichtig ist und wie sie ihr Leben gestalten wollen.» Menschen mit Unterstützungsbedarf sollen möglichst viele und neue Erfahrungen machen dürfen: bei der Arbeit, beim Essen, beim Wohnen oder bei Freizeitaktivitäten. Wie der Mann mit mehrfacher Beeinträchtigung, der es sich unlängst zum Ziel setzte, unbegleitet mit dem Rollator den rund 30 minütigen Fussweg Richtung Stadtzentrum anzutreten. Er begann sein Training mit kurzen Geheinheiten im Quartier, vergrösserte nach und nach den Bewegungsradius, bis er sich eines Tages für genug fit erklärte, um die gesamte Strecke im Alleingang in Angriff zu nehmen – zum Erstaunen eines Angehörigen, dem er in der Stadt zufällig begegnete und der sich über das Vorgehen des Heims zunächst befremdet zeigte. Doch gerade solche Experimente mit ungewissem Ausgang gehören zum Paradigmawechsel. Stephan Oberli: «Unsere Klientinnen und Klienten dürfen experimentieren, denn neue Erfahrungen geben dem Ich erst richtig Kontur. Das heisst für Personen aus dem Umfeld des Betroffenen, von Überbehütung und betreuung Abstand bzw. in Kauf zu nehmen, dass Experimente gewisse Risiken mit sich bringen.» Denise Gurtner, Leiterin des Bereichs Wohnen, nickt. Jemandem etwas Neues zuzutrauen, sei oft eine höchst anspruchsvolle Gratwanderung. «In der Begleitung müssen wir einen Zustand manchmal einfach aushalten, statt subito zu intervenieren. Gleichzeitig können wir jemanden auch nicht xmal scheitern lassen.» Achtsames Beobachten helfe, die richtige Balance zwischen Risiko und Sicherheit zu finden. Oli: flauschiger Zuhörer mit Superkräften «In jeder Person ist ein Samen angelegt, dem wir einen guten Nährboden zum Wachsen bereitstellen können», ist Denise Gurtner überzeugt. Dafür ist ein Gegenüber notwendig, das zuhört und hinschaut; ganz besonders bei Menschen, deren Kommunikation erschwert ist und die mit Gesten, Geräuschen oder Tönen signalisieren, wie es ihnen geht.

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