Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 25 Im Fokus Frau Ling, weshalb forschen Sie zum Thema Identitätsentwicklung bei kommunikativen und kognitiven Beeinträchtigungen? Meine langjährige Praxiserfahrung mit Menschen mit komplexen und kognitiven Beeinträchtigungen ist der Hauptgrund. So haben mich beispielsweise Erwachsene mit Mehrfachbehinderung und Gehörlosigkeit beeindruckt, die mir mit wenigen individuellen Gesten und einem Fotoalbum ihre Lebensgeschichte erzählten und dabei immer wieder auf sich deuteten. Da wurde mir klar: Identität kann auch ohne die Beherrschung einer Sprache aktiv gestaltet werden. Das ist leider eine Forschungslücke, da diese Menschen von Studien oftmals ausgeschlossen werden und in der deutschsprachigen Forschung entsprechende Theorien fehlen. Sprache und Kommunikation sind zentral für die Bildung der eigenen Identität. Welche Herausforderungen gibt es bei Einschränkungen in der Interaktion? Sprache und Kommunikation sind so wichtig, da es für die Identitätsentwicklung immer die Interaktion und die Verortung in der sozialen Welt sowie ein Verständnis der eigenen Lebensgeschichte braucht. Entscheidend ist auch, dass wir selbst etwas bewirken können und unterschiedliche Räume und Rollen haben, in denen wir Anerkennung erfahren. Karen Ling* erforscht die Identitätsentwicklung von Menschen mit Beeinträchtigungen in der Kommunikation. Im Kurzinterview legt sie ihre Motivation, ihre Haupterkenntnisse und die Unterstützungsmöglichkeiten dar. Interview: Salomé Zimmermann «Der Verlust von Rollen, die einen Teil der Identität ausmachten, kann zu Resignation und Aggression führen.» Karen Ling, Dozentin HfH Negative Erfahrungen bei der Arbeit können wir etwa durch positive Erlebnisse in der Familie oder Freizeit ausgleichen. Dadurch stabilisieren wir unsere Identität. Nicht oder kaum sprechende Menschen brauchen ein Umfeld, das ihnen solche Anerkennungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Wie schwierig das sein kann, zeigt sich bei Erwachsenen mit fortschreitenden Erkrankungen wie Parkinson oder ALS, die die Mimik und andere nonverbale Kommunikationsformen oder die Lautsprache nach und nach verlieren. Diese Menschen erleben in sozialen Situationen oft Ausgrenzung – sie werden ignoriert, oder es wird mit ihnen gesprochen, als ob sie Kinder wären. Zudem verlieren sie durch die Erkrankung Rollen, die einen Teil ihrer Identität ausmachten, beispielsweise ihre berufliche Rolle. Das kann zu Resignation oder Aggression als Ausdruck von «Identitätsverlust» führen. Wie steht es um die Identität bei Personen mit mehrfachen und komplexen Beeinträchtigungen? Alle Bereiche der Identität sind betroffen – einerseits die Kognition, die zentral für die eigene Lebensgeschichte ist, andererseits die Interaktion und die damit verbundenen Erfahrungen von Anerkennung und Selbstwirksamkeit und schliesslich das Erleben von unterschiedlichen Rollen und Räumen. Gerade bei Erwachsenen mit kognitiven und komplexen Beeinträchtigungen ist deshalb das «Normalisierungsprinzip» so wichtig, das bedeutet das Erleben von Rollen etwa als «WG-Partner» oder als «Künstlerin im Atelier».

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