Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 9 Im Fokus Die Identität einer Person beschränkt sich nicht auf die Informationen in ihren Ausweispapieren. Sie ist komplex, paradox und vielfältig. Sie entwickelt sich über das ganze Leben hinweg. Wichtige Faktoren sind persönliche Ressourcen, das soziale Umfeld und gesellschaftliche Normen. Ein Blick auf das Thema mit Dario Spini, Sozial- und Politikwissenschaftler der Uni Lausanne*. Interview: Anne-Marie Nicole « Wir bestimmen nicht alleine, wer wir sind» Wie würden Sie den Identitätsbegriff definieren? Ich könnte sagen, Identität ist einfach die Antwort auf die Frage «Wer bin ich?». Identität ist aber komplexer und bildet sich bei jeder Person auf spezifische Art und Weise. Identität vereinigt persönliche Eigenschaften, psychische und physische, die sich aus dem autobiografischen Gedächtnis speisen: woher ich komme, wer ich bin, was meine Motivationen sind, meine Tätigkeiten, wie meine Zukunftsvorstellungen aussehen. Gegenstände wie das Auto oder die Kleidung gehören ebenfalls dazu, wenn ich sie als einen Teil von mir betrachte. Auch das spirituelle Selbst spielt eine Rolle: Glaube, Überzeugungen und Werte. Und wie steht es mit der sozialen Komponente der Identität? Für die Bildung der Identität ist das soziale Umfeld eines Individuums wichtig, und zwar über die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb von Personengruppen, sei dies die Familie, die Arbeit, der Sportclub oder auch in einer sozialen Institution. Die Identitätsmerkmale, die eine Person selbst von sich wahrnimmt, so zum Beispiel die Art, sich auszudrücken, das Aussehen oder die berufliche Tätigkeit, nimmt auch die Aussenwelt wahr. Wie wir uns geben und das Bild, das andere von uns haben: Beide Aspekte tragen zur Bildung unserer Identität bei. Wir bestimmen nicht allein, wer wir sind. Viele Aspekte unserer Identität interagieren mit der Identität anderer Menschen. Das führt natürlich auch zu Konflikten. In Fall unterschiedlicher Identitäten kann es zu Konflikten kommen, selbst ohne sich persönlich zu kennen. Aspekte der Identität interagieren dabei auf verschiedenen Ebenen. Das kann im Inneren einer Person selbst sein, aber auch zwischen verschiedenen Personen sowie von einer Person gegenüber einer komplexen, in sich widersprüchlichen Welt. Auch in sozialen Institutionen treffen unterschiedliche Identitäten aufeinander und können zu Konflikten führen. Jeder soziale Ort ermöglicht Chancen, legt aber auch Hindernisse in den Weg. Bei einem Leben innerhalb einer Gemeinschaft ist es nicht immer möglich, die eigene Identität auszudrücken. Jede Person muss sich diesem Umfeld anpassen. Der Identitätsbegriff ist paradox, umfasst Unterscheidung und Anpassung gleichermassen. Es geht darum, wie man sich gegenüber anderen positionieren will. Identität schliesst immer beides ein, sich mit etwas oder mit anderen zu identifizieren, aber auch sich von etwas oder von anderen zu unterscheiden. Das was uns mit anderen verbindet, ermöglicht es uns, mit andern zusammenzuarbeiten, uns gegenseitig zu unterstützen. Und das, was uns von anderen unterscheidet, ist sicherlich eine Bereicherung, führt aber manchmal auch zu Schwierigkeiten. Individuen bewegen sich also stets zwischen dem, was sie einzigartig macht, und dem, was sie mit anderen verbindet? Genau, wobei es hier grosse Unterschiede im Verlauf der Geschichte gibt. Es gab Zeiten, in denen die Familie, der Clan, die Religion über dem

RkJQdWJsaXNoZXIy MTY2MjQyMg==