Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 17 Im Hier und Jetzt Dieses mit den Menschen «in Beziehung sein» respektive immer wieder «in Beziehung treten» und zu sehen, wie sich das positiv auf diese auswirkt, sei gerade auch für Mitarbeitende erfüllend und befriedigend, sagt Doreen Prüher. Das Erlernen dieser Haltung bezeichnet sie aber auch als Lebensschule: «Wir sind gefordert, im Hier und Jetzt zu sein und uns ganz auf das Gegenüber einzulassen.» Menschen mit Demenz geben einem sofort zu spüren, weiss Prüher, wenn eine Mitarbeiterin mit den Gedanken ganz woanders ist und nebenbei schnell noch die Pflege erledigen will. «Schnell geht meistens nicht, weil der Bewohner oder die Bewohnerin gerade ganz andere Absichten verfolgt.» Die Arbeit für Menschen mit Demenz erfordere eine gewisse Langsamkeit, trage zur Entschleunigung bei. Es braucht Zeit, Empathie und viel Beobachtung, um die Bedürfnisse von Menschen zu erkennen, die ihre Wünsche kaum mehr verbal zum Ausdruck bringen können. Wichtig ist für Kehrein und Prüher zu betonen, dass die Sonnweid nicht auf mehr Mitarbeitende zählen kann als andere Pflegeheime auch. Von Bedeutung sei vielmehr die Erfahrung, so Prüher, und, wie Gerd Kehrein beifügt, die in der Sonnweid gepflegte und geschulte Haltung. Neben einer klaren Haltung muss die Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz mit der Einsicht verbunden sein, so Kehrein, dass diese im Hier und Jetzt leben. Das Gestern und Morgen ist für sie nicht mehr von Bedeutung. Dieses Wissen beeinflusst gerade auch den Umgang mit der Biografie der Menschen. Auch in der Sonnweid wird – wie in vielen gerade auf Demenz spezialisierten Heimen – eine auf die Biografie bezogene Begleitung und Betreuung gepflegt. Der Mensch trägt seine Biografie in sich «Wir versuchen in der Pflege und Betreuung das umzusetzen, was wir im Moment sehen», hält Doreen Prüher fest. «Die Menschen zeigen uns, was für sie wichtig ist, und wir passen uns dieser Situation in der Pflege an.» Das Verhalten und die Emotionen, die ein Mensch äussert, sind dabei immer auch von seiner Biografie geprägt, «der Mensch trägt seine Biografie in sich», wie es Prüher formuliert. Es kann zum Beispiel sein, dass jemand auf eine bestimmte Mitarbeiterin negativ reagiert, ohne dass wir uns dies erklären können. «In einem solchen Fall versuchen wir in der Biografie Antworten zu finden und fragen bei den Angehörigen nach.» Womöglich wird der Bewohner durch die Mitarbeiterin an eine bestimmte Person erinnert. Oder jemand verweigert plötzlich den Kaffee zum Frühstück: Aus dem Gespräch mit den Angehörigen wird dann deutlich, dass die Bewohnerin früher viel Tee getrunken hat. Bei der Arbeit mit der Biografie gehe man in der Sonnweid, wie Prüher und Kehrein betonen, aber immer von der Wahrnehmung im Hier und Jetzt aus. Es mache wenig Sinn, bei Vorlieben und Abneigungen eines Menschen vor allem auf bestimmte Angaben von Angehörigen zu vertrauen, die möglicherweise gar nicht – mehr – der aktuellen Lebensrealität entsprechen. Kehrein: «Wir erleben häufig, dass Angehörige Möbel und Bilder von zu Hause mitbringen, die eine Person in den letzten Jahren immer sehr geliebt hat, diese für sie aber dann plötzlich völlig fremd sind, weil sie in ihrem Selbstverständnis 25 Jahre früher lebt.» «Wir wissen nicht, an welchem Zeitpunkt ihres Lebens die Menschen für sich jetzt stehen», sagt Kehrein, der sich eingehend mit dem Thema Biografiearbeit beschäftigt hat. Er vergleicht unser Leben mit einem Bücherregal, wo die einzelnen Bücher, chronologisch geordnet, von Monat zu Monat unsere Geschichte erzählen. Mit dem Beginn der Demenz beginnen diese Bücher aus dem Regal zu fallen. Zudem verändern sich Menschen mit der Demenz und entwickeln neue Vorlieben oder Abneigungen. So wird jemand womöglich zu einem Langschläfer, obwohl er zeit seines Lebens ein Frühaufsteher war. Oder eine Hausfrau, die immer leidenschaftlich gern gekocht hat, will vom Kochen nichts mehr wissen. Schöne Gefühle, positive Erinnerungen «Wir konzentrieren uns darauf, den Moment für die Menschen schön und angenehm zu gestalten», sagt Doreen Prüher. Neben der zu Beginn erwähnten Gestaltung der Innen- und Aussenräume gehören bestimmte Aromen und Düfte dazu, die guttun und positive Erinnerungen wecken. Auch Musik und die Gemeinschaft mit Tieren tragen zu einem Wohlgefühl bei. «In unserem Angebot ist vieles integriert, das womöglich einen Bezug zur Biografie hat, wir gehen aber nicht so weit, jemanden zu einer Aktivität zu drängen, welche heute für ihn nicht mehr von Bedeutung ist. Die Menschen sollen so sein, wie sie sind und das tun, was sie gerade mögen. «Auch mit Aktivitäten und Beschäftigungen lässt sich Identität stiften, das Wichtigste aber sind die Menschen, die mit mir unterwegs sind, und wie sie dies tun.» Gerd Kehrein, Leiter Bildung Im Fokus

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