Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 7 Im Fokus Wenn ich nicht für das Magazin Artiset schreibe, moderiere ich Erzählcafés an verschiedenen Orten, für verschiedene Zielgruppen. So zum Beispiel für betagte Menschen im Pflegeheim. Eine prägende zwischenmenschliche Erfahrung, die den Teilnehmenden die Möglichkeit bietet, über ihre Lebensgeschichte nachzudenken sowie ihre eigenen Ressourcen, die Beziehungen zueinander und ihre persönliche Identität zu stärken. Von Anne-Marie Nicole Eines der ersten Erzählcafés für ältere Menschen, das ich moderieren durfte, fand im Pflegeheim Les Pervenches in Carouge im Kanton Genf statt. Anfang Nachmittag trafen die ersten Teilnehmenden nach und nach gemütlich ein und setzten sich an den grossen Tisch im Aktivierungsraum. Über 20 Personen waren der Einladung gefolgt – weit mehr, als sich Estelle Floret, Leiterin der Aktivierung, erhofft hatte. Noch bevor alle ihren Platz gefunden hatten und ich erklären konnte, was ein Erzählcafé ist und wie es abläuft, fragte mich ein Bewohner: «Was erzählen Sie uns denn heute?» Diese Frage wird mir regelmässig gestellt, wenn ich zum ersten Mal ein Erzählcafé in einem Pflegeheim durchführe. Jedes Mal antworte ich mit einem feinen Lächeln: «Nicht ich, sondern Sie werden erzählen!» Denn diese Gesprächskreise haben den Anspruch, einen wohlwollenden und respektvollen Raum zu schaffen, wo Menschen ihre Geschichte erzählen können und vor allem Gehör finden. Das Erzählcafé in Carouge fand am 14. Juli statt, kurz vor dem 1. August also. Somit lag das Thema des Tages auf der Hand: der Nationalfeiertag. Zu diesem Anlass und um das Eis zu brechen, zeigte ich Bilder mit Bezug zum Nationalfeiertag verschiedener Länder, aus denen die anwesenden Bewohner:innen mehrheitlich stammten. Nachdem sich alle nacheinander vorgestellt und so ein erstes Mal das Wort ergriffen hatten, begann ich, die vorbereiteten Fragen zu stellen. Dabei folgte ich einem chronologischen Ablauf: von der Vergangenheit über die Gegenwart bis zur Zukunft. Wie war es bei Ihnen als Kind? Wie haben Sie den Nationalfeiertag erlebt? Welche Bilder bleiben Ihnen in Erinnerung? Wie ist es heute? Was möchten Sie weitergeben? Zunächst etwas schüchtern, dann immer selbstsicherer und energischer erzählten die Bewohner:innen von ihren Kindheitserinnerungen, von Traditionen, Feuerfreuden, Lampions, kulinarischen Spezialitäten. Manchmal waren sie erstaunt, gleiche Dinge erlebt zu haben, so zum Beispiel, wenn die «kleinen» Geschichten in einen grösseren historischen Kontext gestellt wurden. Gemeinsam lachten sie über Anekdoten, liessen Emotionen aufleben und liessen auch Tränen ihren Lauf, wenn es um schmerzhafte Erinnerungen ging. Gegenseitiges Zuhören und Erzählen Estelle Floret ist von der positiven Wirkung der Erzählcafés überzeugt: «Das ist ein einzigartiger Raum für gegenseitiges Zuhören und Erzählen auf Augenhöhe», fasst sie zusammen. Sie war überrascht, dass sich die Teilnehmenden nicht unterbrachen, und erstaunt, als eine desorientierte und sonst nicht sehr gesprächige Bewohnerin ein Erlebnis genau und zusammenhängend wiedergab. In einem Pflegeheim begegnen sich die Bewohnerinnen und Bewohner jeden Tag. Das bedeute aber nicht zwingend, dass sie sich auch kennen, ausser vielleicht die Tischnachbarinnen und -nachbarn, so die Aktivierungsfachfrau. Die Äusserungen ihrer Kolleginnen aus anderen Heimen gehen in die gleiche Richtung: «Anders als sonst haben sie einander zugehört, ohne sich ins Wort zu fallen», berichtet eine von ihnen. «Sie haben viel erzählt, was nicht immer der Fall ist», ergänzt eine weitere Kollegin. «Das Gefühl, gemeinsam etwas Besonderes erlebt zu haben, hat sie einander nähergebracht», freut sich eine dritte Fachperson. So ist zum Beispiel zwischen zwei Bewohnerinnen eine neue Freundschaft entstanden. Sie haben entdeckt, dass die eine im Dorf ihrer Schwiegerfamilie geheiratet hatte, einem NETZWERK ERZÄHLCAFE Der Verein Netzwerk Erzählcafé fördert die Entstehung und Etablierung sorgsam moderierter Erzählcafés in der Schweiz. Erzählcafés sind moderierte Erzählrunden zu einem vorgegebenen Thema, bei denen sich die Teilnehmenden auf Augenhöhe über ihre Lebensgeschichte austauschen. Sie bringen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und Alter an Orten wie Quartiertreffpunkten, Museen, Bibliotheken oder Cafés zusammen. Das Netzwerk bietet Weiterbildungen, Erzählrunden und Tagungen an. Zudem stellt es eine Agenda, Artikel, Instrumente und eine Liste der Moderatoren und Moderatorinnen zur Verfügung.

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