Identität leben und gestalten | Magazin ARTISET | 3 2024

ARTISET 03 I 2024 29 Individualisierte Instrumente erforderlich Die minutiöse Biografiearbeit, die die Caritas-Familienplatzierung zusammen mit den Kindern leistet, wird komplexer, wenn es sich um Teenager handelt. «Jugendliche bleiben nur für kurze Zeit in der Pflegefamilie, bevor sie in ein Heim eintreten», sagt Barbara Kaiser. Dies ist der Fall beim Heim APAC der Fondation La Rambarde, das Jugendlichen einen mittelfristigen Aufenthalt bietet. Knapp ein Dutzend Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren leben in zwei Wohnungen und drei Studios in der Stadt Lausanne. «Sie verbringen im Durchschnitt neun Monate dort», erklärt Marie Calame, Erzieherin und Abteilungsleiterin der Wohngruppen. Anders als bei Kindern verwenden wir hier Methoden mit einem systemischen Ansatz. «Wir nutzen Hilfsmittel, um zusammen mit ihnen und ihrer Familie ihre Geschichte aufzuarbeiten und ihren Weg zu ebnen. Dabei passen wir die Instrumente individuell an.» Sobald die Jugendlichen in der Institution APAC ankommen, erhält das Erziehungsteam von den Sozialbehörden eine Beschreibung, die auf Ereignisse in ihrem Leben basiert. Dies ist eine gute, aber ungenügende Grundlage. «Wir gehen lieber von der Art und Weise aus, wie die Familien über ihren Lebensweg berichten, beispielsweise mithilfe einer Zeitachse», erklärt Marie Calame. «Mit diesem Instrument können die Jugendlichen und ihre Familie ihre Geschichte aufarbeiten, sich wiederholende Muster erkennen oder auch ihre Erfolge in den Mittelpunkt stellen. Wir konzentrieren uns also mehr auf ihre Ressourcen als auf die Probleme, denn das hilft ihnen weiterzukommen», führt sie weiter aus. Marie Calame nennt das Beispiel einer 17-Jährigen, die aufgrund ihrer sexuellen Identität grosses Leid erfuhr und nicht daran glaubte, dass ihre Eltern sie verstehen könnten. «Beim Rückblick auf ihren bisherigen Lebensweg legten wir den Fokus auf die auslösenden Faktoren ihres Leides und stellten fest, dass sie sich von ihrer Familie und der Schule unter hohen Druck gesetzt fühlte, sich diesen aber vor allem selbst auferlegte. Wir konzentrierten uns auf die verschiedenen Ebenen, auf denen sie sich unter Druck fühlte und wie sie darauf Einfluss nehmen konnte.» So fand die junge Frau einen Weg, um mit ihren Eltern zu kommunizieren, und der Druck liess schneller als erwartet nach. Sie führte zum Beispiel ein Notizbuch, in dem sie Sätze und Bilder einklebte zu den Schlüsselmomenten, in denen sie sich bewusst um ihr Wohlbefinden kümmerte. Nach und nach gewann sie in der Institution, in der Schule und auch in ihrer Familie an Selbstvertrauen. Gemäss Marie Calame gewinnen die Jugendlichen mit diesen Instrumenten Abstand zu dem, was sie immer wieder gehört haben, und werden dazu angeleitet, ihre eigene Worte dafür zu finden. Und weiter: «Wir geben uns nicht mit den ersten Eindrücken zufrieden. Wir setzen uns gemeinsam mit den Jugendlichen und ihren Familien mit Elementen aus ihrer Vergangenheit auseinander, die ihnen in der Gegenwart oder Zukunft nützlich sein können.» Die Bewahrung und der Wiederaufbau der Identität von Kindern in Pflegefamilien und sonder- und sozialpädagogischen Institutionen sind während ihres gesamten Lebens von grosser Bedeutung. Hilfsmittel wie das Lebensbuch und andere individualisierte Ansätze spielen dabei eine entscheidende Rolle. «Das Sammeln von Informationen hilft dabei, im Erwachsenenalter die Spuren der eigenen Kindheit wiederzufinden und darauf aufbauend eine Identität zu entwickeln.» Mireille Chervaz Dramé, Präsidentin des Vereins Port d'Attache Im Fokus

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