Magazin ARTISET_9-2022_Politische Partizipation

ARTISET 09 I 2022 35 Sie gehen also nicht davon aus, dass künftig selbst bei einer Verlagerung in den ambulanten und intermediären Bereich noch 683 zusätzliche Heime nötig sind? Leser: Diese Zahlen stelle ich in Frage. Wenn wir die integrierte Versorgung, zu der wesentlich auch intermediäre Strukturen wie das Betreute Wohnen gehören, endlich umsetzen, braucht es nicht so viele neue Heime. Wir müssen uns von einem Denken verabschieden, das die Langzeitpflege in Sektoren einteilt, die nebeneinander und nicht miteinander funktionieren. Wir müssen uns auch von der Grundhaltung verabschieden, das Alter als Krankheit zu betrachten. Die Langzeitpflege fusst heute immer noch viel zu stark imVerständnis des Krankenversicherungsgesetzes. Das Alter ist aber keine Krankheit, sondern ein Lebensabschnitt. Mit dieser Aussage sprechen Sie die Vision «Wohnen im Alter» des Branchenverbands Curaviva an? Leser: Mit der Vision «Wohnen im Alter» bringen wir zum Ausdruck, dass die betagten Menschen in erster Linie ein für sie gutes Wohnumfeld möchten. Zusätzlich benötigen sie entsprechend ihren individuellen Bedürfnissen Pflege, Betreuung und weitere Dienstleistungen. All dies erfordert den Aufbau vielfältiger, miteinander vernetzter und durchlässiger Angebote. Pflegeheime sind einTeil davon, zum Beispiel spezialisierte Heime für Demenz. Von zentraler Bedeutung sind allerdings auch das BetreuteWohnen, die verschiedenen Tages- und Nachtstrukturen und natürlich die Spitex. Weshalb sind Sie so überzeugt davon, dass das Betreute Wohnen stark an Bedeutung gewinnen wird? Höchli: Die Vision «Wohnen in Alter» von Curaviva orientiert sich an der Nachfrage. Die Menschen wollen so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben. Und das Betreute Wohnen hat hier oft einen Vorteil gegenüber dem angestammten Wohnen. So haben die Betagten einen raschen, unkomplizierten Zugang zu allen Dienstleistungen, auch zur Pflege. Zudem gibt es Kostenvorteile: Im Betreuten Wohnen fallen tiefere fixe Infrastrukturkosten an als in einemHeim. Und gegenüber der regulären Spitex sind beim Betreuten Wohnen die Personalkosten tiefer. So sind die Wegkosten kleiner, und zudem können häufiger Pflegeteams mit unterschiedlich qualifiziertem Personal aufgeboten werden. Leser: Das möchte ich unterstützen. Entscheidend ist, dass die Politik aufgrund solcher Vorteile die Weichen richtig stellt. Dazu gehören unter anderem entsprechend angepasste Ergänzungsleistungen, damit auch weniger begüterte Menschen sich das Betreute Wohnen leisten können. Der Bundesrat wird ja demnächst einen Gesetzesentwurf vorlegen. Höchli: Im Unterschied zu einer Pflegeheimstruktur lassen sich Überbauungen mit betreutenWohnformen bei Bedarf auch wieder anders nutzen. Die Langzeitpflege wird vor allem in den nächsten 20 bis 30 Jahren ein grosses Mengenwachstum erfahren, danach wird die Kurve wieder abflachen. Es macht wenig Sinn, für diese Zeit Hunderte neuer Heime zu bauen. Wie zuversichtlich sind Sie, dass die nötigen Strukturen entsprechend rasch aufgebaut werden können? Leser: Ich bin sehr skeptisch. Es gibt erste Kantone, welche die integrierte Versorgung in ihren Planungen berücksichtigen. Der Kanton Baselland etwa, auch St. Gallen und das Tessin. Die Romandie ist häufig weiter als die Deutschschweiz, vor allem der Kanton Waadt. Oft fehlt aber noch der politische Wille. Höchli: Auch ich sehe riesige Herausforderungen. Und zwar unabhängig vom Föderalismus und auch unabhängig davon, für welche Art von Strukturen sich die Verantwortlichen letztlich entscheiden. Wir haben vor allem zwei limitierende Faktoren: die Fachkräfte und die Finanzen. Es ist zurzeit noch völlig unklar, wie wir den Bedarf stemmen. Der Obsan-Bericht geht davon aus, dass der Bereich der Alters- und Langzeitpflege im Jahr 2045 knapp ein Viertel der Gesundheitskosten beanspruchen wird, derzeit sind es rund 15 Prozent. Was ist zu tun? Höchli: Bereits ein Bericht des Bundesrats von 2016 hat aufgezeigt, dass im Bereich der Langzeitpflege grosse finanzielle Herausforderungen auf uns zukommen. Die Obsan-Studie enthält jetzt die Basis, um den Finanzierungsbedarf genauer zu schärfen. Aufgrund der Studie fragt der Urner FDP-Ständerat Josef Dittli in einer Interpellation nach, bis wann der Bundesrat den entsprechenden Bericht vorlegt. Wichtig ist zudem, «Wir müssen auch Zusatzfinanzierungen prüfen, zum Beispiel mit der befristeten Erhöhung der Mehrwertsteuer.» Daniel Höchli, Geschäftsführer von Artiset Der Obsan-Bericht 03/22: Bedarf an Alters- und Langzeitpflege in der Schweiz. Prognosen bis 2040.

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