Bedürfnisgerecht bauen

ARTISET 03 I 2023 43 Aktuell «Patient mit Behinderung, 30, verliert wegen Paradontitis auf Grund mangelnder Zahnreinigung all seine Zähne.» Was sich liest wie eine Nachricht aus früheren Zeiten, ist noch heute kein Einzelfall. Menschen mit Behinderung sind auch aktuell von folgenschwerer Vernachlässigung der Zahngesundheit bedroht. Das gilt besonders für Kinder mit Behinderung. Während Kinder im Regelschulbetrieb gut mit Prophylaxemassnahmen versorgt sind, werden Kinder mit Behinderung oft nicht im gleichen Mass und in gleicher Regelmässigkeit berücksichtigt. Dazu kommt, dass die Mund- und Zahnpflege Eltern und Betreuungspersonen von Kindern mit Behinderung vor besondere Herausforderungen stellt. Verzögerte Behandlungen Cornelia Filippi ist Kinderzahnärztin und Leiterin der Abteilung Prophylaxe in der Klinik für allgemeine Kinder- und Jugendzahnmedizin des Universitären Zentrums für Zahnmedizin in Basel. Sie sagt: «Kinder mit Behinderung haben öfter Karies und Entzündungen imMundraum, können ihr Unwohlsein oder ihre Schmerzen aber teilweise nicht verbal ausdrücken. Das führt zu verzögerten Behandlungen, und ihre zahnmedizinischen Beschwerden können sich gravierend auf andere Organe und ihre Allgemeingesundheit auswirken.» Der Bedarf für Zahnarztbesuche ist bei Kindern mit Behinderung höher und in der Regel für alle Beteiligten mit grossem Stress und zeitlichem Aufwand verbunden. Der Stress und die zahnmedizinische Unterversorgung von Kindern mit Behinderungen hängen von einem Mangel an spezialisiertem Know-how bei allen Beteiligten ab. Recherchen und eine Umfrage, die im Auftrag von Youvita bei zahnärztlichen Fachpersonen und Betreuungspersonen durchgeführt wurde, zeigen: Es gibt kaum Hilfsmittel, die auf Kinder mit Behinderung abgestimmt sind. Behandelnde, Eltern und Betreuungspersonen werden unzureichend unterstützt. Das führt unter anderem dazu, dass einige Zahnarztpraxen Kinder mit Behinderung nicht als Patientin oder Patient aufnehmen. Recht auf Gleichberechtigung Kinder mit Behinderung haben allerdings das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zu den Gesundheitsdiensten. Die Qualität der Versorgung muss derjenigen anderer Menschen entsprechen. Das schliesst mit ein, dass ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden, ihre Autonomie gewahrt wird und Behandlungen nur nach Aufklärung und im Einvernehmen mit den Patientinnen und Patienten durchgeführt werden. Voraussetzung dafür ist, dass Kinder mit Behinderung Zusammenhänge und Abläufe für sie verständlich vermittelt bekommen, ihre Kommunikationsmöglichkeiten berücksichtigt werden und ihren Anliegen Gehör geschenkt wird. Betreuungspersonen und zahnärztliche Fachpersonen sehen deutlichen Handlungsbedarf in der Umsetzung dieser von der UN-Behindertenrechtskonvention vorgesehenen Rechte. Die Umfrage von Youvita macht deutlich: 50 bis 70 Prozent der Kinder mit Behinderung sind bei der Mund- und Zahnhygiene sowie bei Zahnarztbesuchen auf Unterstützung angewiesen. Zahngesundheit entsteht darum im Miteinander zwischen Kind, Eltern und/oder Betreuungspersonen und behandelnden Fachpersonen. Auf geeignete Weise muss das Wissen von Kindern mit Behinderung zu Mund, Zähnen, Prophylaxe sowie zu Abläufen in Zahnarztpraxen und nicht zuletzt zu ihren Rechten gestärkt werden. Behandelnde Fachpersonen müssen Abläufe auf die Bedürfnisse ihrer jungen Patientinnen und Patienten ausrichten, sich und die Betreuungspersonen spezifisch auf die Behandlung vorbereiten und spezielle Ressourcen (z. B. räumliche technische, personelle) zur Verfügung haben. Besonders wichtig ist die Rolle der Eltern oder Betreuungspersonen, das betont auch Cornelia Filippi: «Staatliche Prophylaxemassnahmen greifen heute erst ab dem Schuleintritt. Wichtig für die Zahngesundheit ist aber die Zahnhygiene ab frühester Kindheit. In den ersten zwei Lebensjahren entwickeln sich Gewohnheiten – auch bei Menschen mit Behinderung –, und diese gilt es im Anschluss aufrechtzuerhalten.»

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