Soziale Unernehmen im Wandel | Magazin ARTISET | 9-2023

16 ARTISET 09 I 2023 Im Fokus erklärt Daniel Zufferey, Geschäftsführer der Stiftung. «Aber nicht alle haben die Fähigkeit oder Lust zur betrieblichen Integration», fährt er fort: «Manche Menschen fühlen sich in einer geschützten Werkstatt besser aufgehoben, selbst wenn sie fähig wären, in einem Betrieb zu arbeiten. Die Hauptsache ist, dass sie die Wahl haben und am richtigen Platz sind.» Der Wunsch nach einem breiteren Berufsangebot stand am Anfang des Projekts Martigny Boutique-Hotel. Die ganze Geschichte geht auf Anfang der 2000er-Jahre zurück. «Damals stellten wir fest, dass wir nur wenig Anstellungsmöglichkeiten in Gastgewerbe und Hotellerie anboten, obwohl die betreuten Personen in diesen Bereichen über viele Kompetenzen verfügten», erinnert sich Daniel Zufferey. In den 2010er-Jahren nahm das Hotel endlich Gestalt an. Und da man nur gut bedient ist, wenn man sich selbst bedient, entschied sich die FOVAHM zum Bau eines eigenen Hotels. Seit Herbst 2015 steht das Hotel in einem Geschäftsquartier der Stadt Martigny, nur wenige Minuten Fussweg vom Bahnhof entfernt. Alle 52 Zimmer tragen Namen von Kunstmalerinnen und Kunstmalern, deren Werke in der Fondation Pierre Gianadda ausgestellt wurden. Die Stiftung ist Partnerin des Projekts. Sinnvolle und wertschätzende Arbeitsplätze Das Hotel ist wie die im Jahr 2018 eröffnete Galerie Oblique in Saint-Maurice eine Firma, welche die Stiftung unabhängig von den sozio-edukativen und arbeitsagogischen Aufträgen betreibt und die in keinem Zusammenhang mit dem Leistungsauftrag des Kanton Wallis steht. Das Hotel bietet vor allem hervorragende Möglichkeiten zur Schaffung von sinnvollen und wertschätzenden Arbeitsplätzen. Neben den rund zwanzig Gastronomie- und Hotelfachleuten arbeiten dreissig Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung in integrierten Werkstätten in den Bereichen Küche, Service und Verwaltung, wo sie von Fachpersonen der Arbeitsagogik begleitet werden. «Es ist schwierig, ein bestehendes Hotel zu finden, das so viele Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung anbietet», erklärt Daniel Zufferey. Das Interesse an einem eigenen Hotel liegt für die Stiftung aber auch noch anderswo: Es bietet nämlich die Gelegenheit, die in den geschützten Werkstätten der Stiftung hergestellten Produkte zu bewerben und aufzuwerten. Man findet die Holzarbeiten, Kosmetikartikel und Delikatessen auf den Zimmern und Tischen des Restaurants sowie im Shop gegenüber der Rezeption. «Anders, aber alle zusammen» Die Leitung der Einrichtung wurde Mathias Munoz, einem Fachmann aus der Branche, anvertraut. Wie bei allen Privatunternehmen ist der Geschäftsführer verantwortlich für die personellen und finanziellen Ressourcen und wacht über Geschäftsentwicklung und Qualität der Dienstleistungen. Laut Einschätzung von Mathias Munoz sind die Herausforderungen, mit denen die Hotellerie im Allgemeinen konfrontiert wird, auch hier nicht viel anders. Nach dem Motto «Anders, aber alle zusammen» stellt er hinsichtlich Arbeitsqualität an die Berufsfachleute die gleichen Anforderungen wie an die Mitarbeitenden mit einer Behinderung – auch wenn Letztere bei der Stiftung angestellt sind und nicht auf der Lohnliste des Hotels stehen. Einzig die Kommunikation und der Arbeitsrhythmus unterscheiden sich. Denn: «Wird ein Gast unfreundlich empfangen, ist das Essen schlecht oder das Zimmer nicht sauber, kommt er nicht mehr. Und ohne Gäste gibt es keine Arbeit und folglich auch keine integrierten Werkstätten mehr!» Das Martigny Boutique-Hotel ist ein Win-win-Projekt: Es wertet die Fähigkeiten der Menschen mit einer kognitiven Behinderung auf und reduziert gemäss Erfahrung von Mathias Munoz gleichzeitig die Personalfluktuation und die krankheitsbedingten Absenzen bei Berufsfachleuten. «Die betriebliche Integration verleiht der Alltagsarbeit ein anderes Gesicht: Durch ihre Spontaneität, ihren Enthusiasmus, ihr Engagement und ihre Kompetenzen verstärken die integrierten Menschen Empathie, Verantwortungsbewusstsein und Zusammengehörigkeitsgefühl in den Teams», stellt der Hotelmanager fest. Daniel Zufferey freut sich darüber. Umso mehr, weil weitere integrierte Werkstätten mit lokalen Partnern in Planung sind. «Vor zwanzig Jahren hatten wir zwei betrieblich integrierte Personen, heute sind es bereits rund hundert, die eine Stelle in einer Gruppenintegration haben und fünfzig in Einzelintegration.» Abschliessend findet er: «Integration muss unterschiedliche Formen annehmen. Und unsere Aufgabe als Institution ist es, ein breites Spektrum an beruflichen Möglichkeiten anzubieten.» JEDE ARBEIT VERDIENT EINEN LOHN Anfang Jahr sorgte der Monatslohn eines jungen Mannes mit Behinderung für Schlagzeilen. Fünf Franken erhielt er für seine Arbeit in einer geschützten Werkstatt. Wie sieht es diesbezüglich im Martigny Boutique Hotel aus? «Der Lohn von Menschen mit Behinderung, die bei uns arbeiten, muss global betrachtet werden», erklärt Daniel Zufferey, Geschäftsführer der Stiftung FOVAHM. Er besteht aus einer IV Vollrente, was für nahezu alle begleiteten Personen bei der FOVAHM gilt, sowie einer Entschädigung der Stiftung für die Arbeit in der Werkstatt. Die Werkstätten der Stiftung erwirtschaften einen Gesamtumsatz von drei Millionen Franken, wovon eine Million in die Finanzierung der Rohstoffe fliesst. Von den restlichen zwei Millionen Bruttomarge wird die Hälfte als Entschädigungen verteilt. «Wir erachten es als richtig, dass der Umsatz die Rohstoffkosten und Entschädigungen der begleiteten Personen deckt und dass ein Teil den Unterhalt der Werkzeuge und Maschinen sowie das Funktionieren der Werkstätten mitfinanziert», präzisiert Daniel Zufferey. Die Beschäftigten in den integrierten Werkstätten (Küche, Service, Verwaltung) des Martigny Boutique Hotels erhalten bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 27,5 Stunden pro Woche (mit ständiger Begleitung) 490 Franken pro Monat. Dies entspricht einem durchschnittlichen Stundenlohn von rund 4.10 Franken.

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