Soziale Unernehmen im Wandel | Magazin ARTISET | 9-2023

ARTISET 09 I 2023 19 Roth, Leiterin des Kompetenzbereichs Bildung, Arbeit und Wohnen der Stiftung Perce-Neige. «Natürlich verteidigen wir die Inklusion, allerdings in ihrer Vielschichtigkeit.» Das heisst, basierend auf einer gründlichen und individualisierten Analyse der Wünsche und Fähigkeiten der betreuten Person, um für sie das passendste soziale Unternehmen zu finden. Dabei wird auf einen möglichst ununterbrochenen Lebenslauf und die Gewährleistung einer dauerhaften Struktur geachtet. Inklusion durch Arbeit erfolgt jedoch nicht nur in Integrationsbetrieben, sondern auch in den Institutionen. Deshalb entwickelt die Stiftung ihr Angebot an integrierten Werkstätten für differenzierte berufliche Tätigkeiten je nach den Fertigkeiten der Betroffenen laufend weiter. Von den 220 Angestellten, die einer vertraglich geregelten, bezahlten Tagesbeschäftigung nachgehen, befinden sich nur rund 20 Personen in einer individuellen arbeitsagogischen Integration in einem Unternehmen. Rund 40 Personen arbeiten in einer integrierten Werkstatt im regulären Arbeitsmarkt. Alle anderen arbeiten in den verschiedenen geschützten Werkstätten der Stiftung. Kathrin Roth vertritt die Meinung, dass jede Art von Arbeitsangebot in erster Linie eine berufliche Identifikation ermöglichen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln und einen Ort des sozialen Austausches bieten soll. Ein sanfter Übergang in die Arbeitswelt Um ihren Auftrag zu erfüllen und zu gewährleisten, dass alle betreuten Personen nach Erreichen des Erwachsenenalters einer Tätigkeit nachgehen können, die ihren Bedürfnissen und ihrem Wohlbefinden entspricht, verfügt die Stiftung über verschiedene Möglichkeiten. Dazu gehört eine mindestens zweijährige Ausbildung, die von der Stiftung betreute Menschen nach der Sonderschule absolvieren können. Sie soll den sanften Übergang von der Schule in die Berufswelt unterstützen. Das erste Jahr ist hauptsächlich der Arbeit an den Sozialkompetenzen, Fähigkeiten, der Feinmotorik sowie dem theoretischen Unterricht gewidmet. Meistens zeigt dieses erste Jahr bereits, ob jemand in eine Arbeitsstruktur integriert werden kann oder für Beschäftigungsprogramme in einem Tageszentrum infrage kommt. Im zweiten Jahr stehen je nach Wunsch und Fähigkeiten der Betroffenen vier dreimonatige Praktika in verschiedenen Werkstätten im Mittelpunkt. «In der Regel wissen am Ende der Praktika alle, wohin sie gehen möchten. Sie wissen aber auch, dass dies nicht in Stein gemeisselt ist und dass sie später wechseln können.» Prozess gegen das Erzeugen von Behinderung Ein anderes Referenzinstrument in der Betreuung von Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung ist das kanadische Modell «Processus de production du handicap (PPH)», also «Prozess der Erzeugung von Behinderung». Dieses Modell stellt die Paradigmen auf den Kopf: Nicht die betroffene Person ist verantwortlich für ihre Behinderung, sondern die Umwelt, die im Alltag dieser Personen eine Erleichterung, aber auch ebenso gut ein Hindernis darstellen kann. Hier kommt den Fachpersonen der Arbeitsagogik eine wichtige Rolle zu: Ihr Auftrag ist es, den Betroffenen den Zugang zu Arbeit zu erleichtern, ihre Kompetenzen zu stärken, für ein gutes Arbeitsklima und generell für das Wohlbefinden der Betroffenen im Alltag zu sorgen. Einmal jährlich erfolgt eine Evaluation, welche die betroffene Person und ihre Bezugspersonen gemeinsam besprechen und die der Bestimmung ihrer Lebensentwürfe dient. Jedes Jahr starten zwischen zwölf und achtzehn junge Erwachsene in die Ausbildung und anschliessend in den Werkstätten. «Da die Betroffenen länger in den Werkstätten bleiben als früher, haben wir zu wenig Platz», stellt Kathrin Roth fest. «Seither schaffen wir alle zwei Jahre neue Werkstätten.» Die jüngsten davon sind «Flexmedia» und «CréaDesign» (siehe folgende Doppelseite). Bereits sind eine Siebdruck- und eine Verpackungswerkstatt in Planung, um den Bedarf für die gesamte Produktion der Werkstätten von Perce-Neige zu decken. Zudem werden neue Flächen für zusätzliche Arbeitsplätze gesucht. «Im Jahr 2030 werden wir unsere maximale Grösse vermutlich erreicht haben», schätzt die Bildungsverantwortliche. «Bis dahin fehlt es uns nicht an Ideen und Projekten, und wir können auf den Unternehmergeist unserer Fachpersonen Arbeitsagogik zählen», versichert sie. «Jedes Arbeitsangebot soll in erster Linie eine berufliche Identifikation ermöglichen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln und einen Ort des sozialen Austausches bieten.» Kathrin Roth, Stiftung Perce-Neige

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