Soziale Unernehmen im Wandel | Magazin ARTISET | 9-2023

40 ARTISET 09 I 2023 Aktuell Die Frage beim Eingang des Pflegehotels St. Johann in Basel begeistert die einen und stört die anderen: «Bevor ich sterbe, möchte ich …» Geschäftsführer André Gyr freut sich über alle Reaktionen, denn sie bedeuten, dass Gedanken und Diskussionen ins Rollen kommen. Er möchte zeigen, dass auch das Sterben letztlich zum Leben gehört. Von Claudia Weiss Übers Sterben. Und übers Leben! «Mich einmal so richtig verlieben», «Meine Mutter noch einmal umarmen» oder «Frieden für die Welt»: Was möchten Sie noch erleben, bevor Sie sterben? Diese Frage könne man sich gar nicht früh genug stellen, ist André Gyr überzeugt – «aber man darf sie sich durchaus auch spät stellen, beispielsweise beim Eintritt in ein Pflegeheim». Deshalb hat Gyr, Geschäftsführer des Pflegehotels St. Johann in Basel, seit dem letzten Herbst neben dem Eingang fünf grosse Schiefertafeln befestigt. Darauf die Überschriften «Before I die, I want to …», «Bevor ich sterbe, möchte ich …» und «Bevor i schtirb, möchti …», darunter leere Zeilen. Die leeren Zeilen laden Vorbeigehende ein, ihre Wünsche mit Kreide auf die Tafeln zu schreiben und so mit anderen zu teilen. «Nicht ausgefeilt und klug, nein, im Vorbeigehen, zu Seelenbedürfnissen» sollen sie festgehalten werden, hat Gyr in der Anleitung auf der Homepage geschrieben. Tatsächlich: Die Frage nach den Lebenswünschen bringt Vorbeigehende zum Innehalten, und die aufgeschriebenen Wünsche rangieren von simpel wie «einfach machen, was ich will» oder «reich werden» bis herzergreifend wie «mein Embryo gebären». Auch Sätze wie «Mein eigenes Bistro eröffnen!», «Nichts bereuen» oder «De Sinn vo mym Läbe finde» zeugen von Seelenbedürfnissen, die trotz der Überschrift viel mehr mit Leben als mit Sterben zu tun haben. André Gyr nickt. Er findet, es sei unbedingt an der Zeit, Gedanken rund um das Sterben näher ans Leben zu holen: «Die beiden sind untrennbar miteinander verbunden, aber oft verdrängen wir das Sterben einfach.» Das Sterben für einmal kunstvoll inszeniert Zu diesem Zweck hat er die Idee der New Yorker Künstlerin Candy Chang aufgegriffen und die fünf Riesentafeln für die Fassade anfertigen lassen. Und damit gleich einen zweijährigen Zyklus mit Veranstaltungen rund um das Thema Sterben lanciert. Dazu gehören unter anderem «Szenische Lesungen mit Erich und Gerda», in der sich die Kunstschaffenden Irina Schönen und Gian Rupf als Ehepaar von 81 Jahren mit Fragen rund um Alter, Krankheit und Lebenssinn auseinandersetzen. Auf die Schiefertafeln sind im Lauf des Jahres fast täglich mehrere Gedanken aufgeschrieben worden, anfangs im Schwall, inzwischen eher tröpfchenweise. Wohl viele hundert Sätze seien so zusammengekommen, sagt André Gyr. Manche haben ihn überrascht, viele tief berührt. Vor allem aber freut er sich darüber, wie viele Reaktionen die Fragen auslösen – in Form von aufgeschriebenen Worten, aber auch in Form von mündlichen Rückmeldungen: Die meisten reagieren begeistert, nur ein paar Einzelne stossen sich daran und finden eine solche Frage, die an die Sterblichkeit mahnt, unpassend

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