Die Qualität der Pflege weiterentwickeln Magazin ARTISET 12

ARTISET Das Magazin der Dienstleister für Menschen mit Unterstützungsbedarf Im Fokus Die Qualität der Pflege weiterentwickeln Ausgabe 12 I 2023 Die Situation der Pflegekinder soll schweizweit verbessert werden Wie die politische Partizipation von Menschen mit Behinderung gelingt Pflegeheime sind auf professionell arbeitende Trägerschaften angewiesen

www.Lohmann-Rauscher.com L&R – international tätig, in der Region verwurzelt. Der Mensch im Fokus. Ihr Wohl steht im Zentrum unseres Handelns. Wir sind der Problemlöser. Mit Expertise und Sorgfalt stehen wir Ihnen zur Seite. Lohmann & Rauscher (L&R) ist ein international führendes Unternehmen für Medizin- und Hygieneprodukte höchster Qualität. In der Schweiz finden Sie uns am Standort St. Gallen. Als Lösungsanbieter für komplexe Anforderungen in der Pflege und Versorgung von Patient:innen entwickeln, produzieren und vertreiben wir unter anderem Produkte, Konzepte und Services für die Wundversorgung, Binden und Verbände, OP-Set-Systeme für Klinik und Praxis sowie Produkte für die Unterdrucktherapie (CNP). Unser Kompetenzfeld. Gesundheit definiert unsere Vision und Werte. Zu unserem Webshop: Lohmann & Rauscher AG · Oberstrasse 222 · 9014 St.Gallen · Schweiz Lohmann & Rauscher (L&R) ist ein international führendes Unternehmen für Medizin- und Hygieneprodukte höchster Qualität. In der Schweiz finden Sie uns am Standort St. Gallen. Als Lösungsanbieter für komplexe Anforderungen in der Pflege und Versorgung von Patient:innen entwickeln, produzieren und vertreiben wir unter anderem Produkte, Konzepte und Services für die Wundversorgung, Binden und Verbände, OP-Set-Systeme für Klinik und Praxis sowie Produkte für die Unterdrucktherapie (CNP). Jetzt bequem, schnell und unabhängig Produkte im L&R Webshop bestellen! Sie erreichen unser Bestellportal 24 Stunden, 7 Tage in der Woche. Wir sind der Problemlöser. Mit Expertise und Sorgfalt stehen wir unseren Kund:innen, Mitarbeiter:innen, Anwender:innen und Patient:innen zur Seite. Der Mensch im Fokus. Das Wohl unserer Mitarbeiter:innen, Kund:innen, Anwender:innen und Patient:innen steht im Zentrum unseres Handelns. Unser Kompetenzfeld. Gesundheit definiert unsere Vision und Werte. L&R – international tätig, in der Region verwurzelt. Hier finden Sie den L&R Webshop: www.Lohmann-Rauscher.com 0123_LuR_AZ_Imageanzeige_LRCH_deutsch_210x297mm.indd 1 08.02.23 14:24

ARTISET 12 I 2023 3 Editorial «Mit den nationalen Indikatoren und dem nationalen Qualitätsentwicklungsprogramm rückt die Branche landesweit zusammen.» Elisabeth Seifert, Chefredaktorin Liebe Leserin, lieber Leser Demnächst ist so weit: Gemäss Auskunft des Bundesamts für Gesundheit (BAG) werden Anfang 2024 erstmals medizinische Qualitätsindikatoren auf Ebene der Heime publiziert. Das BAG rapportiert damit national und öffentlich die Daten der Pflegeinstitutionen zu mehreren Indikatoren. Erhebung und Publikation medizinischer Qualitätsindikatoren entsprechen einer im KVG verankerten Pflicht. Der Zweck besteht darin, die «Qualität der Leistungen zu überwachen», wie es im Gesetz heisst. Diese Verpflichtung stellt die Branche vor eine Herausforderung: Schon allein die Erhebung der Daten in allen über 1500 Pflegeinstitutionen ist alles andere als einfach, zumal die Daten einheitlich erfasst werden müssen. Zudem stellt sich eine Reihe von Fragen über den Sinn solcher Indikatoren, vor allem auch betreffend den Umgang mit den Resultaten – vonseiten der Heime selbst, der Behörden und der Öffentlichkeit. Mit den nationalen Indikatoren soll Transparenz geschaffen werden, das machen die beiden Curaviva-Vertretenden Daniel Domeisen und Verena Hanselmann im Interview deutlich (Seite 12). Der Zweck dieser Transparenz bestehe in einem national koordinierten, datenbasierten Qualitätsentwicklungsprozess, wie beide betonen. Aus diesem Grund hat der Bund respektive die Eidgenössische Qualitätskommission das nationale Implementierungsprogramm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen 2022 – 2026 ins Leben gerufen. Um praxisrelevante Arbeitsinstrumente zu entwickeln, arbeitet eine Reihe von Institutionen aus allen drei Landesteilen an diesem Programm mit. Wir haben mit den Verantwortlichen von drei dieser Pflegeheimen gesprochen (Seiten 6, 16 und 22). Sie legen offen dar, wo sie die Chancen, aber auch die Herausforderungen der nationalen Qualitätsindikatoren sehen, zur Sprache kommen auch Unsicherheiten und Sorgen. An ihrer Teilnahme am nationalen Implementierungsprogramm erleben die Institutionen den Austausch mit anderen Pflegeheimen als besonders wertvoll. Mit den nationalen Indikatoren und dem nationalen Qualitätsentwicklungsprogramm rückt die Branche landesweit zusammen. Darin liegt ein grosses Potenzial – nach innen und aussen: Die Bündelung der Kräfte ermöglicht qualitativ hochstehende Leistungen. Zudem können sich die Pflegeheime gegenüber den Behörden und der Politik auf nationaler Ebene besser Gehör verschaffen. Wechsel in der Redaktion: Ende Oktober ist Urs Tremp nach knapp 12 Jahren als Redaktor des Magazins in den Ruhestand getreten. Ende November hat Claudia Weiss nach 10 Jahren den Verband als festangestellte Redaktorin verlassen, um eine neue Herausforderung anzunehmen. Beide haben mit ihren Reportagen, Porträts, Interviews und Berichten das Magazin massgebend geprägt. Wir wünschen ihnen für ihre Zukunft alles Gute. Neu wird das Redaktionsteam ab Januar durch Salomé Zimmermann verstärkt. Die 46-Jährige hat viele Jahre in verschiedenen Funktionen in der Abteilung Kommunikation und Marketing der Universität Bern gearbeitet, unter anderem verantwortete sie das universitäre Mitarbeitenden-Magazin. Titelbild: Eine Pflegende und eine Bewohnerin unterwegs auf einem Gang in einem der Häuser der Residio AG in Hochdorf LU. Die Entwicklung der Pflegequalität hat hier einen hohen Stellenwert. Foto: Residio AG

6. und 7. März 2024 KKL Luzern Informationen und Anmeldung trendtage-gesundheit.ch Trends und Perspektiven im Gesundheitswesen Machbarkeit — Finanzierbarkeit — Ethik #TGL2024 Burcu Demiray Leitung Forschungsgruppe «CogInno», Healthy Longevity Center, Universität Zürich Nora Gilgen wiss. Mitarbeitende, sozialwissenschaftliche Asien-Orient- Institut, Universität Zürich Tobias Nef Technical Group Head ARTORG, Universität Bern Andreas Simm Forschungsleiter Herzchirurgie Universitätsklinikum Halle forever young? Transgourmet Quality im Care-Einsatz Im Bürgerspital Solothurn wird alles getan, damit man sich gut und sicher versorgt und betreut fühlt. Dabei werden oft und gerne Produkte der Transgourmet-Eigenmarke Quality eingesetzt. Interview mit Ivan Croci, Bürgerspital Solothurn: Ivan Croci, Sie sind Standortleiter Gastronomie im Bürgerspital Solothurn. Wie viele Gerichte bereitet Ihr Team täglich zu? Im Bürgerspital Solothurn haben wir rund 200 Patienten, für die wir Morgen-, Mittag- und Abendessen zubereiten. Hinzu kommen 600 bis 700 Gäste beim Mittagsservice in unserem Restaurant. Daneben beliefern wir auch eine Kita, ein Schulheim sowie das Untersuchungsgefängnis gleich neben dem Spital. Was ist das Besondere an einer Spitalverpflegung? Bei uns sind es sicher die 41 Kostformen, die wir anbieten, deshalb haben alle unsere Köche eine Ausbildung als Diätkoch. Ansonsten soll die Verpflegung qualitativ hochwertig, frisch sowie möglichst normal sein, damit sich die Patienten wohlfühlen. Sie engagieren sich allgemein stark gegen Foodwaste. Hier haben wir als Grossbetrieb eine besondere Verantwortung und möchten gegenüber Patienten sowie Mitarbeitenden auch ein Zeichen setzen. Deshalb haben wir letztes Jahr ein Projekt gegen Foodwaste gestartet. Dazu gehört auch der Einkauf und der Überblick über die Lagerbestände. Wie wählen Sie Produkte aus dem Transgourmet/Prodega-Sortiment aus? Hauptsächlich nach Qualität und Multifunktionalität, was Gerichte aber auch Kostformen anbelangt. Denn wenn wir für jede Kost ein anderes Produkt benötigen, wird das kompliziert. Aber auch der Preis spielt eine Rolle. Die TransgourmetEigenmarke Quality ist meistens ein bisschen günstiger, bietet aber die gleiche Qualität wie andere Produkte. Das passt perfekt zu unseren Anforderungen. Scannen und Reinschauen Seit zehn Jahren steht Quality für kompromisslos gute Qualität und das beste Preis-Leistungsverhältnis. Wie diese in CareBetrieben eingesetzt werden, sehen Sie im Video. PUBLIREPORTAGE Transgourmet Lochackerweg 5 | 3302 Moosseeedorf | transgourmet.ch/care

Inhalt ARTISET 12 I 2023 5 Impressum: Redaktion: Elisabeth Seifert (esf), Chefredaktorin; Salomé Zimmermann; Anne-Marie Nicole (amn); France Santi (fsa); Jenny Nerlich (jne) • Korrektorat: Beat Zaugg • Herausgeber: ARTISET • 2. Jahrgang • Adresse: ARTISET, Zieglerstrasse 53, 3007 Bern • Telefon: 031 385 33 33, E-Mail: info@artiset.ch, artiset.ch/ Magazin • Geschäfts-/Stelleninserate: Zürichsee Werbe AG, Fachmedien, Tiefenaustrasse 2, 8640 Rapperswil, Telefon: 044 928 56 53, E-Mail: markus.haas@ fachmedien.ch • Vorstufe und Druck: AST&FISCHER AG, Seftigenstrasse 310, 3084 Wabern, Telefon: 0319631111 • Abonnemente: ARTISET, Telefon: 03138533 33, E-Mail: info@artiset.ch • Jahresabonnement Fr. 125.– • Erscheinungsweise: 8 × deutsch (je 4600 Ex.), 4 × französisch (je 1400 Ex.) pro Jahr • WEMF/KS-Beglaubigung 2023 (nur deutsch): 3167 Ex. (davon verkauft 2951 Ex.) • ISSN: 2813-1355 • Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Absprache mit der Redaktion und mit vollständiger Quellenangabe. Im Fokus 6 Alterszentrum Ried, Biel: Definition von Qualitätsstandards für jeden Indikator 10 Weshalb nationale Qualitätsindikatoren erhoben und publiziert werden 12 Transparenz ermöglicht Verbesserung 16 Casa Giardino und Casa Soave, Chiasso: Langjährige Erfahrung mit Indikatoren 19 Was unter Pflegequalität zu verstehen ist 22 Residio AG, Hochdorf: Die Arbeit mit den Indikatoren erfordert Anstrengungen 26 Ein Programm zur Qualitätsentwicklung kurz & knapp 30 Ein Online-Tool erleichtert die Umsetzung der integrierten Versorgung Aktuell 32 Die Situation der Pflegekinder verbessern 36 Kollektive Leistungsbeurteilung verstärkt Identifikation mit dem Betrieb 38 Politische Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung ermöglichen 41 Wie sich Pflegeheim-Trägerschaften für ihre Herausforderungen wappnen 44 Patientenzentrierte Forschung 48 Eine Ausbildung qualifiziert für die Pflege in Krisen Politische Feder 50 Flavia Wasserfallen, Berner SP-Ständerätin 16 32 50

6 ARTISET 12 I 2023 Tradition verbindet sich mit einem Bewusstsein für Qualität Das Alterszentrum Ried in Biel: In der traditionsreichen Liegenschaft werden seit knapp 100 Jahren Seniorinnen und Senioren begleitet und gepflegt. Die Verantwortlichen engagieren sich für eine gute Pflege- und Lebensqualität. Foto: Fabio Blaser/Ried

ARTISET 12 I 2023 7 Wie in allen Pflegeheimen gehört auch im Alterszentrum Ried in Biel die Erhebung von Daten zwecks Berechnung nationaler medizinischer Qualitätsindikatoren seit einigen Jahren zum Alltag. Der Nutzen dieser gesetzlichen Verpflichtung ist für die Verantwortlichen – noch – nicht ganz ersichtlich. Sie stellen aber fest, dass damit das Bewusstsein für einen Qualitätsentwicklungsprozess gestärkt wird. Von Anne-Marie Nicole Das in erhöhter Lage im Bieler Beaumontquartier liegende Alterszentrum Ried feiert in ein paar Monaten sein 95-jähriges Bestehen. In den 1920er-Jahren übernahm die Stadt Biel von der Erbengemeinschaft der Familie Robert, einer seit Mitte des 19.Jahrhunderts in der Region ansässigen Malerdynastie, mehrere Anwesen. Mit dem Kauf verpflichtete sich die Gemeinde, die Grundstücke vor allem zu humanitären Zwecken zu nutzen und die Gebäude des Oberen und Unteren Ried in ein Alters- und Pflegeheim umzuwandeln. Damals befand sich im Unteren Ried noch das Atelier von Léo-Paul Robert. Heute bietet es 38 Langzeitpflegeplätze in Einzel- oder Doppelzimmern sowie 16 Studios für «Menschen im Alter, die Unterstützungsbedarf haben, aber noch nicht bereit für den Eintritt ins Pflegeheim sind», erklärt die Leiterin Pflege, Sandra Debboub. Das Obere Ried schloss hingegen vor Kurzem seine Türen. Das Alterszentrum verfügt über eine öffentliche Cafeteria und dient im Quartier als Begegnungsort. Es ist eines von vier kommunalen Alters- und Pflegeheimen der Stadt Biel. Auf den verschiedenen Stockwerken ist beim Besuch der Schreibenden noch Frühstückszeit. Die Tische stehen verstreut in einem Labyrinth von Gängen, das von den im Laufe der Jahre vorgenommenen Umbauten, Renovationen und Vergrösserungen zeugt. Es herrscht eine friedliche Atmosphäre. Während die einen sich noch Zeit nehmen, um ihr Frühstück zu beenden, befinden sich andere für Pflegeleistungen bereits wieder in ihrem Zimmer oder sind auf dem Weg ins Erdgeschoss, wo ein Team mit den Weihnachtsdekorationen begonnen hat. Pflegequalität und Lebensqualität «Was ist wichtiger? Die Pflegequalität oder die Lebensqualität?», fragt die Geschäftsleiterin Angela Rebetez und bezieht sich dabei auf die Momente im Alltag, in denen jede Person das Leben nach ihrem Rhythmus und ihren Wünschen gestalten kann. «Selbstverständlich trägt die Pflegequalität zur Lebensqualität bei. Aber die Lebensqualität ist etwas Persönliches. Man kann sie nicht so einfach bewerten. Auf diese Lebensqualität legen wir unseren Fokus.» Vor einigen Jahren hielten die Pflegeteams des Alterszentrums Ried in einem Referenzdokument ihre Definition von Pflegequalität fest. Im Zentrum ihrer Tätigkeit stehen das Respektieren der persönlichen Wünsche und die Begleitung des Lebensentwurfs aller Bewohnerinnen und Bewohner. Sandra Debboub weist darauf hin, dass das Respektieren der Wahlfreiheit einer Person den Wert eines medizinischen Im Fokus

8 ARTISET 12 I 2023 NICOLE VON AH-BALSIGER www.keller-beratung.ch 056 483 05 10 5405 Baden-Dättwil St ategie Projekte Controlling Prozesse ATTRAKTIVE ARBEITGEBERIN «Schaffen Sie einen echten Mehrwert für Ihre Mitarbeitenden. Wir unterstützen Sie bei der Entwicklung von Strategien zum Thema Mitarbeitendenbindung. Gerne berate ich Sie persönlich.» Ihre Spezialisten für Spital, Heim und Spitex Qualitätsindikators beeinflussen kann. Sie zeigt das Dilemma am Beispiel des Indikators Sturz auf, den das Alterszentrum zusätzlich zu den sechs nationalen Qualitätsindikatoren erhebt: Sie erzählt von einem fiktiven Bewohner, der seine Beine nicht mehr wirklich gut nutzen kann, jedoch auf seiner Selbstständigkeit besteht und den Transfer vom Bett auf den Stuhl und zurück selbst bewältigen will. Das Team bespricht mit ihm das Risiko eines Sturzes. Er ist sich dessen bewusst und nimmt es in Kauf. Seine Wahl wird dokumentiert, das gesamte Personal weiss Bescheid und respektiert sie. «Der Entscheid dieses Mannes kann die Zahl der Stürze negativ beeinflussen. Das ist nicht gut für die Statistik», meint die Leiterin ironisch, «dafür aber für seine Lebensqualität und seine Selbstbestimmung!» Kontinuierliche Analyse der Werte Seit 2019 ist das Alterszentrum Ried wie alle Schweizer Pflegeeinrichtungen dazu angehalten, sechs nationale medizinischen Qualitätsindikatoren (MQI) zu erheben. Das «Ried» macht dies mithilfe des Bedarfserfassungsinstruments Besa und – teilweise – mittels eines Pflegedokumentationssystems. Es handle sich dabei aber um nichts wirklich Neues, unterstreicht Sandra Debboub. Und Angela Rebetez führt aus: «Wir hatten bereits vor dem Erfassen der nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren ein Qualitätsmanagementsystem, zuerst in Papierform, dann elektronisch.» Hinzu kamen Instrumente, mit denen gewisse Pflegehandlungen und Massnahmen in verschiedenen Bereichen wie Orientierungsfähigkeit, Stürze, Schmerzen oder Mangelernährung bewertet und deren Entwicklung über längere Zeit verfolgt worden sei. «Unsere Praxis basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie dies im Bereich der Pflege allgemein üblich ist», betont Pflegedienstleiterin Sandra Debboub. Die Pflegeteams des Alterszentrums Ried verfolgen monatlich die Entwicklung der Werte bei einer Reihe von Indikatoren, etwa bei Stürzen, Dekubitus oder bewegungseinschränkenden Massnahmen, und klären ab, mit welchen Massnahmen sich die beste Pflegequalität sicherstellen lässt. Dazu gehören zum Beispiel die Einschränkung von Bettgittern oder Sicherheitsgurten an Rollstühlen. Letztere werden seit fast zehn Jahren nur noch in seltenen Ausnahmefällen verwendet. «Die permanente Suche nach Lösungen gehört zu unserer Pflegepraxis, und unser Ziel besteht natürlich darin, möglichst keine Fälle zu haben», meint Sandra Debboub. Jeden Monat liefern das Alterszentrum Ried und die anderen drei kommunalen Heime der für sie zuständigen Bieler Aufsichtsbehörde die Anzeige «Die peramanente Suche nach Lösungen gehört zu unserer Pflegepraxis und unser Ziel besteht natürlich darin, möglichst keine Fälle zu haben.» Sandra Debboub, Leiterin Pflege Im Fokus

ARTISET 12 I 2023 9 Zahlen zu den Dekubitus-Fällen, zu Stürzen und bewegungseinschränkenden Massnahmen. Zudem rapportieren die Heime der Behörde die Pflegestufen der Bewohnenden und allfällige Beschwerden von Angehörigen. Im Blick hat das Alterszentrum Ried auch alle sechs nationalen Qualitätsindikatoren zu den vier Messthemen Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerz. Zu den beiden letztgenannten Indikatoren sagt die Pflegedienstleiterin: «Die Medikamentenüberwachung und die Schmerzeinschätzung bei unseren Bewohnerinnen und Bewohnern gehörten schon immer zu unseren Qualitätsstandards.» Und zwar mithilfe von Instrumenten und Skalen, die auch der kognitiven Leistungsfähigkeit der Bewohnenden Rechnung tragen. Sinn eines Vergleichs zwischen den Heimen Am Nutzen der nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren für das Alterszentrum Ried hegen die beiden Leiterinnen aber so ihre Zweifel. Ihr erster Gedanke ist, dass die Indikatoren «uns persönlich nicht viel» bringen, weil das Heim diese Werte intern bereits seit längerer Zeit in einem Monitoring erfasst. Vor allem hinterfragen sie den mit der gelanten Veröffentlichung der Indikatoren einhergehenden Vergleich zwischen den Heimen. So meint Angela Rebetez: «Muss ich mich nur verbessern, weil ich im Vergleich zu den anderen ein schlechteres Resultat erziele? Sollte ich mich nicht eher verbessern, sobald ich von einem Problem Kenntnis habe?» Die Geschäftsleiterin gesteht jedoch ein, dass die nationale Erhebung zu einer gewissen Sensibilisierung geführt habe. Sandra Debboub bestätigt dies. Sobald die Datenblätter der Indikatoren zur Verfügung gestanden sind, informierte sie das Personal und initiierte anschliessend Gruppenarbeiten mit den Pflegefachpersonen zwecks Definition von Qualitätsstandards für jeden Indikator. «Dies ermöglichte uns, das Personal für die Beurteilungskriterien der Pflegequalität zu sensibilisieren, gewisse Verfahren wie zum Beispiel für die Beurteilung von Mangelernährung zu überdenken und anzupassen.» Die Realität vor Ort berücksichtigen Sandra Debboub bedauert indes, dass sich die nationalen Indikatoren lediglich auf die Pflege beziehen, da das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner auf interdisziplinärer Teamarbeit beruhen. Auch um über diese Praxisrealität berichten zu können, schloss sie sich der Westschweizer Regionalgruppe des nationalen Implementierungsprogramms – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen (NIP-Q-Upgrade) an, dessen Hauptziel die Unterstützung der Institutionen bei der datenbasierten Verbesserung ihrer Versorgungsqualität ist (siehe dazu auch Seite 26). Sandra Debboub und Angela Rebetez erachten es für zentral, den Programmverantwortlichen die Realität im Pflegealltag aufzuzeigen. «Im Rahmen solcher Projekte gibt es immer wieder Expertinnen und Experten, die zu weit von der Realität entfernt sind und denen das Bewusstsein fehlt, was wir im Alltag machen», bedauert Angela Rebetez. Sandra Debboub stellt durchaus befriedigt fest, dass sie den am Programm NIP-Q-Upgrade beteiligten Forschenden der Haute École de la Santé La Source in Lausanne an einer ersten Sitzung die Alltagsrealität erläutern und ihre Bedürfnisse mitteilen konnte. Als gewinnbringend erachtet sie im Rahmen des Programms insbesondere den Austausch mit anderen Pflegeheimen. Dabei geht es etwa darum, welche Erfahrungen andere Heime mit der Erhebung der Daten für die Indikatoren machen und mit welchen Massnahmen sie ihre Pflegequalität verbessern. Sichtbar werden durch den kantonsübergreifenden Austausch, so Sandra Debboub, gerade auch die Unterschiede zwischen den Kantonen. Es gebe in der Pflege vielfältige Praktiken und Organisationsmöglichkeiten. «Mich überraschen aber vor allem die ungleichen Mittel. Einige Kantone verfügen über finanzielle Mittel und Fachkräfte, an die wir nicht annähernd herankommen. Wie soll man unter diesen Bedingungen Vergleiche ziehen können?» Zudem hinterfragt sie die fehlende Harmonisierung der verschiedenen Systeme zur Abklärung des Pflegebedarfs. Die Antworten auf solche Fragen dürften nicht ganz einfach sein. Im Moment sind die Mitglieder der Westschweizer Regionalgruppe dazu eingeladen, ihre Überlegungen weiterzuführen und ihre Anmerkungen – bis zur nächsten Sitzung – per Mail zu kommunizieren. «Einige Kantone verfügen über finanzielle Mittel und Fachkräfte, an die wir nicht annähernd herankommen. Wie soll man unter diesen Bedingungen Vergleiche ziehen können?» Sandra Debboub

10 ARTISET 12 I 2023 Im Fokus Weshalb gibt es eine nationale Erhebung? «Die Leistungserbringer sind verpflichtet, den zuständigen Bundesbehörden die Daten bekannt zu geben, die benötigt werden, um … die Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistungen zu überwachen.» So steht es in Artikel 59a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG). Leistungserbringer wie Spitäler und Heime werden unter anderem dazu aufgefordert, Angaben zu «medizinischen Qualitätsindikatoren» zu machen. Zudem heisst es: «Die Daten werden veröffentlicht.» Erhoben werden die Daten vom Bundesamt für Statistik, das die Daten dem Bundesamt für Gesundheit zur Verfügung stellt, das wiederum für die Veröffentlichung zuständig ist. Seit etlichen Jahren bereits werden von allen Akutspitälern solche Indikatoren erhoben und publiziert. Im Heimbereich wurden im Rahmen eines Pilotprojekts von 2009 bis 2018 von einer interdisziplinären Arbeitsgruppe geeignete Qualitätsindikatoren erarbeitet und ausgewertet. Sechs davon wurden ausgewählt. Die Arbeitsgruppe stand unter der Leitung von Curaviva. Anfang 2024: Erste Publikation auf Heimebene Seit 2019 werden die Indikatoren bei allen Pflegeheimen erhoben. Erstmals publiziert hat das Bundesamt für Gesundheit die Daten der Qualitätsindikatoren im Mai 2022, Die nationalen Qualitätsindikatoren: Daten und Fakten auf der Grundlage der Daten 2019 und 2020. Weil die Datenqualität Mängel aufwies und vor allem die Risikoadjustierung fehlte, wurden die Daten nach Kantonen zusammengefasst und dienten vor allem illustrativen Zwecken. Gemäss Auskunft des BAG werden die Indikatoren Anfang 2024 – basierend auf den Daten 2021 – erstmals auf Heimebene publiziert. Das Bundesamt beabsichtigt, die Indikatoren jährlich zu veröffentlichen. Die Vergleichbarkeit der Werte Die medizinischen Qualitätsindikatoren werden für die Publikation auf Heimebene mit Risikoadjustierung berechnet. Damit wird bezweckt, dass jene Faktoren neutralisiert werden, die den Indikatorwert beeinflussen, aber nicht mit der Qualität der erbrachten Leistungen zusammenhängen. Dadurch soll erreicht werden, dass die Qualität in den gemessenen Bereichen genau abgebildet und ein angemessener Vergleich zwischen den Heimen ermöglicht wird. Die Risikoadjustierung kann allerdings nur bestimmte und nie alle Faktoren berücksichtigen. Zu den möglichen Variablen für die Risikoadjustierung gehören die Pflegestufe der Bewohnerinnen und Bewohner oder die kognitive Leistungsfähigkeit, aber auch das Alter und das Geschlecht sowie Anzeichen emotionaler Instabilität und Depressionen. Arbeitsinstrumente von Curaviva finden Sie hier: Der vom BAG im Mai 2022 publizierte Bericht: Einen Leitfaden zur Datenerhebung finden Sie hier:

ARTISET 12 I 2023 11 Schmerzen: ■ Prozentualer Anteil an Bewohnern, die in den letzten 7 Tagen täglich mässige und mehr Schmerzen oder nicht täglich sehr starke Schmerzen angaben (Selbsteinschätzung). ■ Prozentualer Anteil an Bewohnern, die in den letzten 7 Tagen täglich mässige und mehr Schmerzen oder nicht täglich sehr starke Schmerzen hatten (Fremdeinschätzung). Mangelernährung: ■ Prozentualer Anteil an Bewohnern mit einem Gewichtsverlust von 5% und mehr in den letzten 30 Tagen oder 10% und mehr in den letzten 180 Tagen. Je geringer der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner bei den folgenden Indikatoren ausfällt, desto besser: Polymedikation: ■ Prozentualer Anteil an Bewohnern, die in den letzten 7 Tagen 9 und mehr Wirkstoffe einnahmen. Bewegungseinschränkende Massnahmen: ■ Prozentualer Anteil an Bewohnern mit täglicher Fixierung des Rumpfs oder mit Sitzgelegenheit, die die Bewohner am Aufstehen hindern, in den letzten 7 Tagen. ■ Prozentualer Anteil an Bewohnern mit täglichem Gebrauch von Bettgittern und anderen Einrichtungen an allen offenen Seiten des Bettes, welche die Bewohner am selbstständigen Verlassen des Betts hindern, in den letzten 7 Tagen. Sechs Indikatoren zu vier Messthemen Icons: Flaticon.com

12 ARTISET 12 I 2023 Im Fokus Seit 2019 sind alle Pflegeheime verpflichtet, sechs medizinische Qualitätsindikatoren zu erheben. Demnächst werden diese erstmals veröffentlicht. Daniel Domeisen und Verena Hanselmann vom Branchenverband Curaviva* erläutern die Indikatoren und zeigen auf, wie mittels dieser Daten ein Qualitätsentwicklungsprozess ermöglicht wird. Praktische Hilfe bietet dabei das nationale Implementierungsprogramm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen. Interview: Elisabeth Seifert « Transparenz soll zu Verbesserungen beitragen» Herr Domeisen, Sie waren vonseiten der Leistungserbringer-­ Verbände wesentlich daran beteiligt, die aktuellen sechs medizinischen Qualitätsindikatoren zu definieren. Lässt sich gerade mit diesen die Pflegequalität besonders gut überwachen? Daniel Domeisen: Wir haben uns sehr bewusst für diese sechs Indikatoren respektive die vier Messthemen Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen, Polymedikation und Schmerz entschieden. Unter den vielen weiteren Indikatoren, die grundsätzlich möglich wären, handelt es sich dabei um Themen, die Pflegende mittels bestimmter Massnahmen so beeinflussen können, dass eine höhere Pflegequalität resultiert. Verena Hanselmann: Es war ein komplexer und mehrjähriger Prozess nötig, um herauszufinden, welche Indikatoren wirklich wichtig sind. An diesem Prozess mitgewirkt haben Fachleute unterschiedlicher Bereiche. Wichtig dabei waren auch die Erfahrungen aus dem Ausland. Domeisen: Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, keinen nutzlosen statistischen Zahlenfriedhof zu produzieren. Im Zentrum all unserer Bemühungen rund um die gesetzliche Verpflichtung, solche Indikatoren festzulegen, stand das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner. Die definierten vier Messthemen lassen sich sehr gut zum Wohl der Bewohnenden beeinflussen. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass Pflegequalität bedeutend umfassender ist als diese sechs Indikatoren. Hanselmann: Pflege und Pflegequalität müssen ganzheitlich betrachtet werden, es gibt viele Faktoren, die hier mitspielen. Dazu gehört etwa, die individuellen Bedürfnisse und Werte der Bewohnenden zu berücksichtigen. Ganz wichtig sind auch das pflegerische Know-how und die Zusammenarbeit im Team. Die Berücksichtigung dieser Aspekte trägt dazu bei, die Indikatoren positiv zu beeinflussen. Die medizinischen Qualitätsindikatoren messen ja nichts anderes als die Ergebnisse pflegerischer Handlungen in den von den Indikatoren erfassten Bereichen. Es braucht zum Beispiel sehr viel Know-how und eine gute Zusammenarbeit, um bei demenzkranken Personen festzustellen, welche Schmerzen sie empfinden. Je besser dies gelingt, desto gezielter können entsprechende Massnahmen eingeleitet werden. Domeisen: Die vier Messthemen sind eine Stichprobe und beurteilen damit längst nicht die Pflegequalität als Ganzes. Es handelt sich aber, wie bereits gesagt, um Themen, die das Wohl der Bewohnenden wesentlich mitbestimmen.

ARTISET 12 I 2023 13 Neben den aktuellen sechs Indikatoren zu vier Messthemen wird auf nationaler Ebene bereits die Einführung weiterer Indikatoren geprüft. Hanselmann: Es werden derzeit drei weitere Indikatoren geprüft. Und zwar wiederum in einem ähnlichen Verfahren, also unter Einbezug verschiedener Fachleute sowie internationaler Erfahrungen. Zum einen geht es um Dekubitus, also das Wundliegen. Ähnlich wie die aktuellen Indikatoren misst auch dieser Indikator das Ergebnis von Pflegehandlungen und steht in einem direkten Bezug zum Wohlbefinden der Bewohnenden. Etwas anders ist das bei den Indikatoren gesundheitliche Vorausplanung und Medikationsreview … …diese messen bestimmte Leistungen respektive Massnahmen des Betriebs. Domeisen: Mit diesen beiden Indikatoren soll gemessen werden, wie hoch die Quote der Bewohnenden ist, bei denen der Betrieb eine Medikationsreview oder eine gesundheitliche Vorausplanung durchführt. Hanselmann: Bei der Medikationsreview geht es darum, in einem strukturierten Prozess zu überprüfen, ob Anpassungen in der Medikation vorgenommen werden müssen. Bei der gesundheitlichen Vorausplanung werden Wünsche und Vorstellungen der Bewohnenden gerade auch im Hinblick auf die End-of-LifePhase in Erfahrung gebracht. Sind immer weitere Indikatoren nicht eine Überforderung für die Heime? Domeisen: Wir werden die Anzahl der Indikatoren natürlich nicht ins Unermessliche steigern. Wenn wir zum Beispiel feststellen, dass sich ein Indikator im Verlauf der Zeit nicht mehr mit weiteren Massnahmen beeinflussen lässt, dann nehmen wir diesen wieder raus und fokussieren auf ein anderes Thema. Sie betonen, dass das Wohlbefinden der Bewohnenden im Zentrum der Messungen steht. Damit es den Bewohnenden gut geht, braucht es aber mehr als «nur» eine gute Pflegequalität? Domeisen: Das ist ein Hauptdilemma, das wir in der stationären Langzeitpflege und -betreuung haben. Wir erwähnen vonseiten der Verbände immer wieder, dass die Pflegeinstitutionen einen Spezialstatus haben. Der Bereich, der durch das KVG abgedeckt wird und die Heime dazu verpflichtet, medizinische Qualitätsindikatoren zu erheben, macht nur einen Teil der Aufgaben aus. Über die Pflege hinaus haben Pflegeheimbewohnende Bedürfnisse wie alle anderen Menschen auch. Diese müssen ebenfalls in einer entsprechenden Qualität abgedeckt werden: zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Sicherheit, Essen und Trinken oder Lebensgestaltung. Besteht das Dilemma darin, dass man aufgrund der gesetzlichen Anforderungen viele Ressourcen in diesen Bereich stecken muss und keine mehr für den Rest übrigbleiben? Domeisen: Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass bei der Erhebung der medizinischen Qualitätsindikatoren kein administrativer Aufwand entsteht. So ist kein neues Instrument geschaffen worden. Die Erfassung der relevanten Daten ist vielmehr in die gängigen Bedarfserfassungsinstrumente integriert worden. Ein gewisser Aufwand entsteht, wenn man Verbesserungsmassnahmen umsetzt. Hanselmann: Die Indikatoren bieten die Chance, einen datenbasierten Qualitätsverbesserungsprozess einzuleiten. Wenn man das erfolgreich macht, reduzieren sich idealerweise die Probleme, und damit sinkt der Aufwand. «Wir haben uns von Anfang an dafür eingesetzt, keinen nutzlosen statistischen Zahlenfriedhof zu produzieren. Die definierten vier Messthemen lassen sich gut zum Wohl der Bewohnenden beeinflussen.» Daniel Domeisen «Die Indikatoren bieten die Chance, einen datenbasierten Qualitätsverbesserungsprozess einzuleiten. Wenn man das erfolgreich macht, reduzieren sich idealerweise die Probleme, und damit sinkt der Aufwand.» Verena Hanselmann

14 ARTISET 12 I 2023 Seit 2019 sind die Heime verpflichtet, die genannten sechs Indikatoren zu erheben und an die Bundesbehörden weiterzuleiten. Anfang 2024 werden die Daten erstmals veröffentlicht. Was soll damit erreicht werden? Domeisen: Die Heime unterstehen dem KVG, was die gesetzliche Pflicht mit sich bringt, dem Bund bestimmte Daten zu liefern, die dann veröffentlicht werden müssen. Seit Jahren bereits erheben die Institutionen ihre betrieblichen Daten, die jährlich in der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen, kurz Somed-Statistik, veröffentlicht werden. Jetzt kommen die medizinischen Qualitätsindikatoren dazu. …und worin liegt der Zweck der Veröffentlichung? Domeisen: Es geht um die Herstellung von Transparenz. Das ist der einzige Zweck. Die Daten können und dürfen aber nicht dazu genutzt werden, um Ranglisten zu erstellen. Hanselmann: Die Veröffentlichung schafft Transparenz. Und zwar für die Bewohnenden, ihre Angehörigen, die Mitarbeitenden und die Finanzierer. Diese Transparenz fördert die Sensibilität und kann respektive soll zu einem kontinuierlichen Prozess der Qualitätsverbesserung beitragen. Domeisen: Es bestehen ja bereits Erfahrungen mit der Veröffentlichung der betrieblichen Daten in der Somed-Statistik. Wenn der Betrieb weiss, dass seine Daten veröffentlicht werden, dann wird er dafür sorgen, dass sich die Daten im Verlauf der Jahre zumindest nicht verschlechtern, sondern eher verbessern. Sie sagen, dass keine Ranglisten erstellt werden dürfen: Institutionen und Kantonen sind in den gemessenen Bereichen aber doch miteinander vergleichbar. Domeisen: Man kann die Daten von Institutionen und Kantonen in den gemessenen Bereichen miteinander vergleichen, da stimme ich zu. Um einen solchen Vergleich zu ermöglichen, werden bei der Berechnung der Indikatorwerte ja bestimmte Unterschiede in der Struktur der Bewohnenden und der Heime mitberücksichtigt, welche die Indikatorwerte zusätzlich beeinflussen. So zum Beispiel die Pflegeintensität oder auch die kognitive Leistungsfähigkeit der Bewohnenden. Dennoch muss man gerade mit wertenden Vergleichen sehr vorsichtig sein. …können Sie Ihre Skepsis gegenüber wertenden Vergleichen näher erläutern? Domeisen: Die Unterschiede in der Struktur der Bewohnenden und auch die betriebliche Situation einer Institution oder deren fachliche Spezialisierung kann bei der Berechnung der Indikatorwerte nie vollständig berücksichtigt werden. Es kann also gute Gründe geben, weshalb eine Institution scheinbar weniger gut abschneidet. Es scheint mir deshalb sehr wichtig, dass bei der Interpretation der Indikatorwerte immer auch die spezifische Situation eines Heims einbezogen wird und man keine vorschnellen Schlüsse zieht. Hanselmann: Aus besonders hohen Indikatorwerten einer Institution darf man zudem nicht auf eine grundsätzlich schlechte Pflegequalität schliessen, weil die Indikatoren ja nur einen bestimmten Ausschnitt messen. Gleichzeitig erhofft man sich aber aufgrund der Daten, zu einer nationalen Beurteilung der Qualität in den gemessenen Bereichen zu gelangen, basierend auf einheitlichen Prozessen und Messmethoden. Auf dieser Grundlage geht es dann darum, den Qualitätsverbesserungsprozess weiter voranzutreiben. Wie können die einzelnen Institutionen mit der Publikation ihrer Daten umgehen? Domeisen: Die Betriebe können die Ergebnisse als Marketinginstrument nutzen, zum Beispiel an Informationsveranstaltungen für Angehörige. Und zwar gerade auch dann, wenn die Werte im Vergleich mit anderen Institutionen weniger gut ausfallen. Die Verantwortlichen können die Werte im Detail erläutern, die Gründe für die Ergebnisse darlegen und ausführen, welche Massnahmen angedacht sind. Was braucht es, um diesen Qualitätsverbesserungsprozess auf nationaler Ebene verbindlich voranzutreiben? Domeisen: Ein Faktor sind hier die Qualitätsverträge, welche die Krankenversicherer mit allen Gruppen von Leistungserbringern abschliessen müssen. Die Verträge mit den Akutspitälern werden demnächst unter Dach und Fach sein. Und an zweiter Stelle sind dann wir dran, Curaviva und Senesuisse, die Verbände der stationären Langzeitpflege. Die ausgehandelten Verträge sind dann verbindlich für die einzelnen Leistungserbringer. Bedeutet das nicht wieder zusätzlichen Aufwand für die Branche, vor allem für die einzelnen Institutionen? Hanselmann: Die Institutionen erfüllen bereits etliche Anforderungen der Verträge, etwa die Erhebung der Qualitätsindikatoren. Zudem werden sie verpflichtet, nachweisbar an der Verbesserung ihrer Qualität zu arbeiten. Dazu gehört auch, dass sie über Qualitätsmanagementsysteme verfügen müssen. «Bei der Interpretation der Indikatorwerte muss immer auch die spezifische Situation eines Heims mit einbezogen werden, man darf keine vorschnellen Schlüsse ziehen.» Daniel Domeisen Im Fokus

ARTISET 12 I 2023 15 Viele Kantone verlangen von den Institutionen bereits ein solches System. Domeisen: Was den Aufwand betrifft, haben wir klar signalisiert, dass wir vonseiten der Verbände den Vertrag erst dann unterschreiben werden, wenn die Finanzierung geklärt ist. Dies betrifft die Finanzierung für Zusatzaufwände, etwa den Aufbau eines Qualitätssystems, Software-Anpassungen oder Audits. Die Verbesserungen müssen dann schliesslich von den einzelnen Heimen geleistet werden? Hanselmann: Die Institutionen werden aber nicht allein gelassen. Um die Institutionen in zu unterstützen, hat die Eidgenössische Qualitätskommission EQK das nationale Implementierungsprogramm – Qualität der Langzeitpflege in Alters- und Pflegeheimen lanciert, kurz NIP-Q-Upgrade genannt. Von 2022 bis 2026 haben die Verbände Curaviva und Senesuisse den Auftrag, gemeinsam mit der Praxis und mit wissenschaftlicher Begleitung aus allen Landesteilen lösungs- und praxistaugliche Massnahmen zu entwickeln. Können Sie das Programm NIP-Q-Upgrade kurz erläutern? Hanselmann: Es geht darum, praktische Arbeitsinstrumente zu entwickeln. Und zwar geht es erstens um Arbeitsinstrumente, welche die Institutionen dabei unterstützen, die Erhebung der Daten weiter zu verbessern. Und zweitens geht es um Instrumente, die unterstützend wirken bei der Optimierung der datenbasierten Qualitätsentwicklung. Was erhoffen Sie sich von diesem Nationalen Implementierungsprogramm? Hanselmann: Letztlich geht es darum, das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner zu erhöhen. Ein wichtiger Nutzen des Programms besteht aber, wie gesagt, darin, die Datenerhebung zu erleichtern und die Daten mittels praktischer Instrumente für die Weiterentwicklung der Qualität nützen zu können. Domeisen: Besonders betonen möchte ich, dass es sich um ein nationales Programm handelt, auf der Grundlage national ausgehandelter Qualitätsverträge. Damit wird verhindert, dass unter dem gleichen Gesetz 26 verschiedene Lösungen entstehen. Vom Bund über die Versicherer und die Kantone bis zu den Verbänden mit ihren Kollektivmitgliedern und allen Alters- und Pflegeheimen: Alle bemühen sich gemeinsam, die stationäre Langzeitpflege weiterzuentwickeln. * Daniel Domeisen ist Leiter Gesundheitsökonomie des Branchenverbands Curaviva. Verena Hanselmann ist Projektleiterin Gesundheitsökonomie bei Curaviva. Verena Hanselmann und Daniel Domeisen vom Branchenverband Curaviva: Der Verband hat die Entwicklung der medizinischen Qualitätsindikatoren mitgeprägt. Foto: esf

16 ARTISET 12 I 2023 « Qualität ist eine Investition, sie hat ihren Preis» Die Casa Giardino in Chiasso: Hier und auch in der Casa Soave dokumentieren die Pflegeteams schon seit über 15 Jahren weitgehend die gleichen Themen wie die nationalen medizinischen Qualitätsindikatoren. Foto: Ti-Press

ARTISET 12 I 2023 17 Im Fokus Eine gemeinsame Vision der Pflegequalität vertreten, ein besseres Verständnis der aktuellen und zukünftigen medizinischen Qualitätsindikatoren (MQI) entwickeln und sich auf wissenschaftliche Daten abstützen können: Das sind die Erwartungen des Amts für soziale Institutionen der Stadt Chiasso an die MQI und das Programm NIP-Q-Upgrade. Von Anne-Marie Nicole Stellen Sie sich ein generationenübergreifendes Quartier im Herzen der Stadt Chiasso vor, die im Dreieck zwischen der Grenze zu Italien im Osten, der Bahnlinie im Süden und dem Fluss Breggia im Norden liegt. Es bietet Platz für 155 Menschen im Alter – in altersgerechten Wohnungen, Strukturen für Kurz- oder Langzeitaufenthalte oder spezialisierten Abteilungen in den Bereichen Palliativpflege und Betreuung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Ein Park und diverse öffentlich zugängliche Dienstleistungen fördern im Hinblick auf ein aktives Altern den sozialen Zusammenhalt und das Zusammenleben. All das ist allerdings noch Zukunftsmusik: Bis dieses Projekt der Gemeinde verwirklicht ist, dauert es noch sieben bis zehn Jahre. Im Moment verfügt das Amt für soziale Institutionen von Chiasso über zwei Tageszentren – eines mit therapeutischer Funktion und das andere mit einem Angebot an Freizeitaktivitäten – sowie über die zwei Pflegeheime Casa Soave und Casa Giardino mit insgesamt 139 Plätzen. Die beiden vor über 40 respektive 30 Jahren gebauten Heime werden teilweise abgerissen oder umgebaut und renoviert, damit das neue generationenübergreifende Quartier entstehen kann. Die Casa Soave war ursprünglich eine Institution für betreutes Wohnen und wurde im Laufe der Zeit zu einem Pflegeheim umfunktioniert. Das sechsstöckige Gebäude entspricht organisatorisch nicht mehr den aktuellen Normen, was die Arbeit der Fachteams erheblich erschwert. Auch beim Pflegeheim Casa Giardino drängt sich eine Verjüngungskur auf. Fabio Maestrini, Leiter des Amts für soziale Institutionen der Stadt Chiasso, ist überzeugt: Das zukünftige generationenübergreifende Quartier wird die Logistik der Betreuung von Menschen im Alter deutlich vereinfachen und damit auch die Versorgungsqualität verbessern. Das bedeutet jedoch nicht, dass die aktuelle Pflegequalität schlecht ist. «In gewissen Punkten können wir uns sicher noch verbessern, aber insgesamt arbeiten wir gut, würde ich sagen», betont Anna Tettamanti, Leiterin Pflege in den beiden Heimen. Im Hinblick auf die demnächst zu erwartende Publikation der medizinischen Qualitätsindikatoren zeigt sie sich in Bezug auf die vom Pflegeteam erbrachten Leistungen zuversichtlich. Schaffung von Qualitätsgruppen Im Kanton Tessin arbeiten die Pflegeheime und Spitex-­ Dienste bereits seit über 15 Jahren mit dem Pflegebedarfsinstrument Rai und dokumentieren weitgehend die gleichen Themen wie die aktuellen medizinischen Qualitätsindikatoren: Dekubitus, Stürze, Mangelernährung, bewegungseinschränkende Massnahmen und Medikation. Die seit 2019 obligatorische MQI-Erhebung ist für das Pflegepersonal zwar nichts Neues, erfordert jedoch mehr Zeit am Computer, und dies manchmal zulasten des Kontakts mit den Bewohnerinnen und Bewohnern. Andererseits bot diese gesetzliche Verpflichtung auch die Gelegenheit, das Bewusstsein für die Bedeutung der Pflegequalität zu wecken und interdisziplinäre Qualitätsgruppen zu schaffen, um mögliche Massnahmen und Handlungsansätze zur Verbesserung der erbrachten Leistungen zu erarbeiten. Heute gibt es deutlich mehr Raum für Überlegungen zur Berufspraxis und zu ihrer Kohärenz sowie zum Gleichgewicht zwischen der medizinischen Sicherheit und der Freiheit der Bewohnenden. Für Anna Tettamanti stellen die MQI ganz klar ein Instrument zur Verbesserung der internen Qualität dar. «Es sind wissenschaftliche Daten, die Pflegeteams können sich darauf abstützen und müssen sich nicht mehr ausschliesslich auf ihre eher subjektiven Beobachtungen und Empfindungen verlassen. Sie erlauben eine gründlichere Situationsanalyse in Bezug auf die Themen der Indikatoren.» Viel Arbeit geleistet wurde im Bereich der bewegungseinschränkenden Massnahmen. Laut Fabio Maestrini verzeichnete der Kanton Tessin in den letzten Jahren einen höheren Anteil solcher Massnahmen als der nationale

18 ARTISET 12 I 2023 HF Diplom 3-jährige Vollzeitausbildung Dipl. Aktivierungsfachfrau HF Dipl. Aktivierungsfachmann HF Mehr zum Aufnahmeverfahren unter medi.ch Weiterbildungsangebote für Aktivierungsfachpersonen HF (Ermässigung für SVAT-Mitglieder) Zertifikat FAB Fachperson in aktivierender Betreuung Fachverantwortliche/r in Alltagsgestaltung und Aktivierung Mehr zu den Weiterbildungsangeboten unter medi.ch medi | Zentrum für medizinische Bildung | Aktivierung HF Max-Daetwyler-Platz 2 | 3014 Bern | Tel. 031 537 31 10 | at@medi.ch HÖHERE FACHSCHULE FÜR AKTIVIERUNG AM PULS DER PRAXIS > > AKTIVIERUNG Anzeige Durchschnitt. «Wir haben geprüft, ob die Daten korrekt erfasst wurden, und dann Strategien entwickelt, um die Anwendung von bewegungseinschränkenden Massnahmen zu reduzieren.» So sind heute zum Beispiel Fixierungen mit einem Bauchgurt im Rollstuhl komplett verschwunden. In Bezug auf die Polymedikation ist der Handlungsspielraum der Pflegeteams beschränkter. Es wurden nicht-­ medizinische Ansätze wie Aromatherapie, tiergestützte Therapie und Schmerztherapie eingeführt. Im Bereich der Polymedikation einzugreifen ist jedoch schwieriger, denn «die Medikamente werden von der Ärzteschaft verschrieben», so Anna Tettamanti. «Und wir arbeiten mit etwa 20 externen Hausärztinnen und Hausärzten zusammen.» Ein weiterer Faktor sei die Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner. «Sie sind an ihre Medikamente gewöhnt. Für sie steht die Medikation für eine gute Versorgung. Die Anzahl zu reduzieren ist deshalb oft problematisch. Es ist sogar schwierig, ein Originalmedikament durch ein Generikum zu ersetzen!» Laut Einschätzung von Fabio Maestrini ist es auch eine Frage der Kultur, denn im Tessin liegt die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen statistisch über dem Schweizer Durchschnitt. «An dieser kulturellen Dimension müssen wir mit den neuen Generationen von Menschen im Alter arbeiten», betont er. Ein sehr konstruktives Programm Seit Ende Sommer wirkt Anna Tettamanti im Rahmen des Programms NIP-Q-Upgrade (siehe dazu auch Seite 26) in der Regionalgruppe für die italienische Schweiz mit. Fünf Tessiner Pflegeheime sind darin vertreten. Über das erste und bisher einzige Treffen kann sie nur Positives berichten: Sich gegenseitig kennenlernen, die gleiche Sprache sprechen, die aktuellen und zukünftigen Indikatoren besser verstehen, eine gemeinsame Vision und Vorstellung in Bezug auf die Pflegequalität vertreten und sich über den Berufsalltag austauschen. «Es ist sehr konstruktiv!» Anna Tettamanti freut sich auf die weitere Arbeit im kommenden Jahr. Vier Treffen der Regionalgruppe sind bereits geplant. Neben der Aufgabe, die Erhebung der Indikatoren zu optimieren und die Versorgungsqualität zu verbessern, warten auf das Amt für soziale Institutionen der Stadt Chiasso noch weitere Herausforderungen, die sicher einen Einfluss auf die Pflegequalität und allgemein auf die Lebensqualität der Bewohner und Bewohnerinnen haben werden. Eine im vergangenen Januar erfolgte Gesetzesänderung im Rahmen der kantonalen Gesundheitsplanung soll den Zusammenschluss zwischen den Langzeiteinrichtungen, intermediären Strukturen und der Spitex fördern. «Wir werden im Hinblick auf eine integrierte Versorgung vernetzt arbeiten. Das ist die Zukunft», so Fabio Maestrini. Eine weitere grosse Herausforderung liegt in den angekündigten linearen Kürzungen durch den Kanton ab 2024, unter anderem bei der Finanzierung der sozialen Institutionen. «Es ist wichtig, dass wir auch auf politischer Ebene beginnen, über Qualität zu diskutieren. Qualität ist eine Investition, sie hat ihren Preis. Mit weniger Ressourcen kann man keine Qualität erreichen», ist der Direktor überzeugt. Er hofft, in den Lösungen, Instrumenten und Massnahmen aus dem Programm NIP-Q-Upgrade Argumente und Zahlen zu finden, die er in die Politik einbringen kann. «Wissenschaftliche Daten erlauben eine gründlichere Situationsanalyse; die Pflegeteams müssen sich nicht mehr ausschliesslich auf subjektive Empfindungen verlassen.» Anna Tettamanti, Leiterin Pflege

ARTISET 12 I 2023 19 Im Fokus Die Erhebung von medizinischen Qualitätsindikatoren hat nicht zum Ziel, die Pflegequalität umfassend abzubilden. Unsere Autorin bettet die Indikatoren in ein ganzheitliches Verständnis von Qualität im Bereich Pflege ein. Sie zeigt zudem auf, wie die Indikatoren genutzt werden können, um die Pflegequalität systematisch – und ganzheitlich – zu verbessern. Von Natascha Nielen* Plädoyer für eine ganzheitliche Sichtweise Die Erhebung von medizinischen Qualitätsindikatoren (MQI) in der stationären Langzeitpflege gehört mittlerweile zum Alltag. Doch was können sie zur Erhaltung und Förderung der Pflegequalität beitragen? Um dieser Frage nachgehen zu können, muss erst geklärt werden, wie Pflegequalität definiert wird: Die WHO beschreibt sie als das Ausmass, in welchem die Leistungserbringer die Gesundheitsergebnisse der Patientinnen und Patienten respektive der Bewohnenden beeinflussen. Diese Beeinflussung basiert auf evidenzbasiertem Fachwissen und ist entscheidend für die Umsetzung der Gesundheitsversorgung. Dabei sollen folgende Faktoren berücksichtigt werden: ■ Effektivität – Bereitstellung von evidenzbasierten Gesundheitsdiensten ■ Sicherheit – Vermeidung von Schäden an Patientinnen und Patienten oder Bewohnenden ■ Personzentriertheit – Bereitstellung einer Pflege, welche die individuellen Vorlieben, Bedürfnisse und Werte der Patientinnen und Patienten sowie der Bewohnenden berücksichtigt Um eine gute Pflegequalität erreichen zu können, braucht es ausserdem eine professionelle Pflege. Der International Council of Nurses (ICN) formulierte dazu eine Definition, welche auch vom Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) unterstützt wird: «Krankenpflege umfasst die autonome und gemeinschaftliche Pflege von Einzelpersonen jeden Alters, von Familien, Gruppen und Gemeinschaften, ob krank oder gesund, und in allen Umgebungen. Zur Krankenpflege gehören die Förderung der Gesundheit, die Vorbeugung von Krankheiten sowie die Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen. Interessenvertretung, Förderung eines sicheren Umfelds, Forschung, Beteiligung an der Gestaltung der Gesundheitspolitik und am Patienten- und Gesundheitssystemmanagement sowie Bildung sind ebenfalls wichtige Aufgaben der Pflege.» Qualitätsmessungen sind oft eindimensional Um zu erfahren, wie es in einer Langzeitpflegeinstitution um die Pflegequalität steht und ob eine professionelle Pflege gelebt wird, braucht es Qualitätsmessungen. Dazu gehören das Sammeln und Analysieren

20 ARTISET 12 I 2023 Besuchen Sie uns auf www.band-werkstaette.ch Stiftung Band-Werkstätte Basel Aus der Theorie in die Praxis: Wir leben die UN-Behindertenrechtskonvention und fördern unsere Klient:innen ressourcenorientiert und individuell. Dabei sind wir stets dynamisch, mutig und humorvoll. «In den vergangenen zwei Jahren haben wir einen grossen Sprung gemacht, was unsere Rechte angeht. Ich übernehme gern Verantwortung.» Sabrina, Mitglied Betriebskommission «Hier ist man gut aufgehoben, es wird aufeinander geschaut, alle haben Bezugspersonen. Wir sind auf einem guten Weg. Darauf können wir stolz sein.» Jose, Mitglied Betriebskommission Teilhabe Sinnhaftigkeit Selbstorganisation Anzeige von qualitätsrelevanten Daten. Qualitätsmessungen in Langzeitpflegeinstitutionen verlaufen nach heutigen Standards oft eindimensional, obwohl eine ganzheitliche Sichtweise unter Einbezug des Pflegeverständnisses und der Moralvorstellungen der Pflegenden essenziell ist. Es zeigte sich auch in der Shurp-Studie, dass genügend Personalressourcen, eine gute Teamzusammenarbeit und ein entsprechendes Sicherheitsklima Einfluss auf die Pflegequalität haben und zu weniger impliziter Rationierung führen. Als Messinstrument eignet sich beispielsweise das evidenzbasierte «Quality of Health Outcome Model» (QHOM). Dieses wurde als «Zürcher-Pflegequalitätsmodell» an die Schweizer Bedürfnisse angepasst, fördert Qualitätsdiskussionen in Pflegeinstitutionen und bietet eine Grundstruktur zu den Messverfahren. Es basiert auf fünf Elementen: System, Ergebnis, Familie und Bezugspersonen, Patientinnen und Patienten sowie Bewohnende und Prozesse und Interventionen. Auch das Stufenmodell der Pflegequalität nach Fiechter und Meier (1981) kann bei der Messung der Pflegequalität unterstützen: Dieses enthält vier Stufen, welche jeweils gewisse Kriterien zur Überprüfung beinhalten: ■ Gefährliche Pflege: Bewohnende haben bereits Schaden erlitten oder sind durch Unterlassung oder Fehler gefährdet ■ Sichere Pflege: routine- bzw. standardmässige Versorgung jedoch ohne individualisierte Pflege ■ Angemessene Pflege: personzentrierte Pflege unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse Erfassung, Offenlegung und Nutzung der Indikatoren können zur Verbesserung der Pflegequalität beitragen. Im Fokus

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